Aufsatz*


Bruce Lee

Bruce Lee:
Ost-West-Grenzgänger

Hägele, W.: Bruce Lee – Grenzgänger zwischen Ost und West In: Sport und Gesellschaft – Sport and Society 19 (2022), 3, S. 375-395.

Schlüsselwörter

Bruce Lee; Kampfkunst; Jun Fan Gung Fu; Jeet Kune Do; Hongkong-Chinese; Amerika-Aufenthalt; Zen-Buddhismus; Laotse; Taoismus; Kung Fu-Genre; Kampfchoreographie; Action-Darsteller

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1  Einleitung

Anfang der 1970er-Jahre löste Bruce Lee mit seinen Filmen und Kampfkunstchoreografien wahre Begeisterungsstürme in Ost und West aus. Als personifizierte Ikone des Kung Fu und Idol einer auch heute noch großen Fangemeinde öffnete er die Tür in Hollywood für Kampfkunst-Darsteller wie Jackie Chan, Chuck Norris und Dolph Lundgren. Namhafte (Action-)Regisseure wie Quentin Tarantino und John Woo ließen sich von der Brillanz seiner Kampfchoreografien inspirieren.

Nur Insidern ist bekannt, dass Bruce Lee bleibende Verdienste auch in der Weiterentwicklung der Kampfkünste erworben hat. Basierend auf einer außerordentlich großen Bewegungsbegabung, gepaart mit viel Fleiß, war er unermüdlich auf der Suche nach der ultimativ besten Kampfkunst. Noch heute sind seine Aussagen zu einer innovativ-fortschrittlichen Kampfkunst lesenswert.

Die Deutung seines Œuvres ohne Rückbindung seiner Persönlichkeit an den sozio-kulturellen Kontext seiner Lebensgeschichte läuft allzu leicht Gefahr, sich in subjektivistischen Überinterpretationen seiner Genialität zu verfangen. Konträr hierzu wird in der vorliegenden Abhandlung die Ansicht vertreten, dass Bruce Lees Lebenswerk nur unter Verweis auf die Besonderheiten seiner Ost-West-Biografie hinreichend verstanden werden kann. Zur Erhärtung dieser These werden in chronologischer Reihenfolge zunächst seine Kindheit und Jugend in Hongkong, danach die Jahre in Amerika sowie zuletzt seine Rückkehr nach Hongkong thematisiert.

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2  Kindheit und Jugend in Hongkong (1940-1959)

2.1  Britische Kronkolonie Hongkong

Bruce Lee wuchs in der Kronkolonie Hongkong auf.[1] In seiner Kindheit lebten im britischen Stadtstaat die privilegierten Besatzer und weißen Geschäftsleute noch weitgehend separat neben der überwiegend armen, bittere Not leidenden chinesischen Bevölkerung, die durch den nicht enden wollenden Strom abertausender chinesischer Festland-Flüchtlinge unaufhaltsam wuchs. Lediglich die Willkürherrschaft der japanischen Militärdiktatur (1942-1945) löste eine vorübergehende Massenflucht aus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trug die einsetzende Liberalisierungs- und Dekolonialisierungspolitik der zurückgekehrten britischen Besatzungsmacht zum Abbau der Rassentrennung und zur Mäßigung der gegenseitigen Vorurteile bei. Die Lebenslage der unzähligen Arbeitslosen und Billigstlohnarbeiter verbesserte sich jedoch erst, als Anfang der 1950er-Jahre das Handelsembargo der UN gegen China (während des Koreakriegs) die Wirtschaft in Hongkong (dem ‚Tor Chinas in den Westen) zwang, schnellstmöglich einen alternativen Industriesektor aufzubauen. Begünstigt durch die Freihandels- und Niedersteuerpolitik der britischen Kolonialregierung und realisiert durch innovationsfreudige westliche, aber auch geflüchtete chinesische Unternehmer sowie eine immens fleißige und anpassungsfähige Arbeiterschaft, gelang innerhalb weniger Jahre ein bemerkenswerter wirtschaftlicher Aufschwung mit der Produktion billiger Textil-, Plastik- und Leichtmetallwaren (Bürklin 1993: 75ff.; Buchholz 1987: 30ff.).

Bis zur Abreise von Bruce Lee nach Amerika (1959) konnte durch den weltweiten Erfolg des Labels ‚Made in Hongkong die größte Not der Hongkong-Chinesen gelindert werden. Doch weder die von den Briten forcierte Verbesserung von Sozial- und Bildungswesen noch ein umfangreiches Bauprogramm zur Linderung der extremsten Wohnungsnot vermochten die soziale Distanz zwischen den westlichen Besatzern und den weitgehend unpolitisch eingestellten Hongkong-Chinesen restlos abzubauen. Nie versuchten die britischen Kolonialisten jedoch, die chinesische Bevölkerung einer aufoktroyierten Verwestlichung zu unterziehen. Vorwiegend beschränkten sie sich auf die Einhaltung von Recht und Ordnung, ohne sich in den Alltag der Chinesen sonderlich einzumischen. Dadurch konnten die Hongkong-Chinesen die Eigentümlichkeiten ihrer jahrtausendalten Kultur weitgehend bewahren. Das pulsierende Leben in den engen

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Gassen und überfüllten Emigrantenunterkünften der Millionenmetropole legten beredtes Zeugnis hiervon ab.

2.2  Chinesische Erziehung und westliche Einflüsse

Eingebunden in diese sozio-politische Geschichte Hongkongs erfuhr Bruce Lee eine primär chinesische Erziehung im Spannungsfeld konfuzianischer Daseinsbewältigung und taoistisch-buddhistischer Glaubensmystik. Regelte der Konfuzianismus die zwischenmenschlichen Beziehungen mit Ein- und Unterordnung des Einzelnen in den Sozialverband, stand in den Volksreligionen die Verbindung der Lebenden mit den Ahnen und vielen Dämonen, Geistern und Göttern im Mittelpunkt. Gewöhnlich vermischten sich im Alltag die strengen Tugenden und der Bildungsauftrag des Konfuzianismus pragmatisch mit dem irrationalen Glauben an Wahrsager, alchemistische Heiler und Geistmedien. Die Ängste vor einer ungewissen politischen Zukunft des Stadtstaates trugen zudem dazu bei, dass viele Hongkong-Chinesen Entspannung und Vergessen bei (Glücks-)Spiel und rauschhaft-lasziven Vergnügungen suchten (Vahlefeld 1995: 95, 101ff.).

Obwohl er im Stadtteil Kowloon inmitten einem Heer mittelloser Flüchtlinge aufwuchs, gehörte Bruce Lee einer privilegierten chinesischen Familie an. Sein Vater, ein angesehener Akteur an der kantonesischen Oper und regional bekannter Filmschauspieler, förderte bereits früh seine Karriere als Kinder- und Jugendschauspieler und wies ihn in die Geheimnisse des Tai Chi Chuan ein. Auf Betreiben seiner Mutter, einer Euro-Asiatin, besuchte er ein katholisches College, war aber ein schlechter Schüler. Hyperaktiv und als Störenfried verschrien, beteiligte er sich lieber an den Raufereien auf den Hausdächern zwischen rivalisierenden chinesischen und weißen Schüler- und Nachbarschafts-Gangs. In diesen ersten Kampferfahrungen gründet sein Faible für den Straßenkampf und seine Kritik am reglementierten westlichen Kampfsport. Mit 13 Jahren erlernte er, unterstützt von seiner Mutter Grace, Wing Chun bei Meister Yip Man. Nicht die höheren Weihen östlicher Kampfkunst trieben ihn zum unablässigen Üben und Trainieren an, sondern der triviale Wunsch, im Straßenkampf siegreich zu sein. Trotz allen späteren Modifikationen blieb das auf Geschmeidigkeit und Effizienz ausgerichtete Nahkampfverhalten des Wing Chun Ursprung und Basis seiner Kampfkunst (Thomas 1994: 3ff.; Greff 2010: 16ff.).

Zeitlebens war Bruce Lee stolz, ein Chinese zu sein. Dennoch sorgte der Sonderstatus Hongkongs dafür, dass er sich einer gewissen Verwestlichung nicht entziehen konnte. Zumindest mittelbar trugen hierzu die im Alltag oft konfliktreichen Begegnungen mit den britischen Ordnungskräften bei. Wurde an Grundschulen noch überwiegend kantonesisch gesprochen, war an höheren

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Schulen/Hochschulen sowie im Geschäftsleben Englisch die offizielle Sprache (Mäding 1964: 33ff.). Zudem orientierten sich die höherstufigen Curricula fast ausschließlich am anglophilen Welt- und Menschenbild. Daher nahm Bruce Lee während seiner Collegezeit trotz späterer Vorbehalte gegenüber dem Sport erfolgreich an einer schulischen Box- und Hongkonger Cha-Cha-Cha-Meisterschaft teil. Gleichzeitig wurde er mit der ambivalenten Doppelbödigkeit des Rassismus konfrontiert: Während er als Mitglied einer chinesischen Schüler-Gang voller Vorurteile seinen britischen Kontrahenten gegenübertrat, wurde er gleichzeitig wegen seiner euro-asiatischen Abstammung von den chinesischen Mitschülern an der Kampfkunstschule von Yip Man ausgegrenzt. Als er schließlich wegen seiner Straßenkämpfe Schwierigkeiten mit der Polizei bekam, erleichterte ihm die Kenntnis der englischen Sprache die Emigration nach Amerika, wo er auf einer Theatertournee seines Vaters zur Welt gekommen war.

3  Die Jahre in Amerika (1959-1971)

3.1  Soziale Unruhen in Amerika

Während Bruce Lees Aufenthalt in Amerika wurde das Land von einer tiefgreifenden politischen Revolte erfasst.[2] Die mittelständische Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit konnte die eklatanten innergesellschaftlichen Widersprüche nicht länger verdrängen. Anfang der 1960er-Jahre versuchte John F. Kennedy (1960-1963) noch, die Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen Weiß und Schwarz mit einem umfangreichen Reformprogramm zu verringern. Nach seiner Ermordung gerieten jedoch in der Ära von Lyndon B. Johnson (1963-1968) die eingeleiteten rassistischen und wohlfahrtstaatlichen Reformen durch die Eskalation des Vietnamkriegs ins Stocken. Verschärfte Kritik und ein Anwachsen der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King waren die Folge. Seit Mitte der 1960er-Jahre nahmen die militanten Proteste der Black-Power-Bewegung in den Ghettos der Großstädte ein bedrohliches Ausmaß an. Nicht weniger vehement kritisierte die Studentengruppe der ‚Neuen Linken‘ den vorherrschenden Profit-Kapitalismus und forderte eine ‚neue Gesellschaft mit mehr demokratischer Partizipation und individueller Selbstbestimmung. Gleichzeitig stellten die Hippies und ‚flower power-Anhänger mit provozierend langen Haaren, farbenfroher Kleidung und alternativen Lebens- und Wohnformen das puritanische Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft radikal infrage. Ihren Höhepunkt

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erlangte die soziale Revolte mit der Ermordung von Martin Luther King (1968). Danach flauten die Proteste während Richard Nixons konservativer Amtszeit (1969-1974), zudem begünstigt durch eine wirtschaftliche Rezession, rasch ab. Viele gegenkulturelle Welt- und Lebensentwürfe der rebellierenden Jugend wurden jedoch absorbiert und integriert von der sich ankündigenden postmodernen Gesellschaft.

3.2  Die Entwicklung der Jun Fan Gung Fu-Kampfkunst

In Seattle, Bruce Lees erster Wirkungsstätte in Amerika (1959-1964), verdingte er sich zunächst als Kellner, erwarb an einer Technical School die Hochschulreife (1960) und studierte anschließend an der Universität Gymnastik, Gesundheitswesen sowie neben weiteren Fächern auch Philosophie (Thomas 1994: 42). Daneben trainierte und unterrichtete er Kung Fu auf Parkplätzen, Hinterhöfen und in Parks. 1963 brach er sein Universitätsstudium ab und gründete in der Nähe des Campus sein erstes Jun Fan Gung Fu-Institut, dem im Jahr 1964 ein zweites in Oakland folgte, einhergehend mit Umzug und Heirat seiner Frau Linda (Greff 2010: 27ff.).

Ohne Berufsabschluss, ständig in Geldsorgen, doch überaus ehrgeizig und lernbegierig, hatte er sich ganz und gar der Kampfkunst verschrieben. Unablässig übte und experimentierte er, mit und ohne Schüler. Sein Ziel war es, ein perfekter Straßenkämpfer zu werden. Hochbegabt, doch schmächtig und von kleiner Statur, hatte er als Wing Chun-Nahkampfspezialist gegen die größeren und kräftigeren Amerikaner nur dann eine Chance, wenn er sein Technikrepertoire erweiterte sowie seine körperlichen Defizite durch ein gezieltes Training kompensierte.

Technikperfektion hieß für ihn, in der nahen, mittleren sowie weiten Distanz gleichermaßen erfolgreich kämpfen zu können (Dubljanin 2007: 7). Die Stilbeschränkungen in den traditionellen Kampfkünsten ignorierte er und wählte grenz- und stilüberschreitend jene Techniken aus, die ihm für den Straßenkampf am geeignetsten schienen. Zunächst beschäftigte er sich mit einigen chinesischen Kung Fu-Stilen. Dann wandte er sich den Wurf-, Hebel- und Grifftechniken im Judo und Jiu Jitsu zu und eignete sich Grundkenntnisse der philippinischen Stockkampfkünste an (Thomas 1994: 97). Sein vordringliches Ziel galt hierbei der Verringerung seiner technischen Defizite, unter anderem im Bodenkampf.

Den innovativsten Technikschub erzielte er jedoch mit seiner Hinwendung zu westlichen Kampfsportarten. Was in Hongkong noch undenkbar schien, in der amerikanischen Diaspora überwand er die Enge seiner ethnischen Vorbehalte und integrierte westliche Stilelemente in seine Jun Fan Gung Fu-Kampfkunst. Als großer Bewunderer der Boxkunst insbesondere von Muhammad Ali übernahm er

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dessen Geschmeidigkeit und schnelle Beinarbeit und kaschierte seine mangelnde Rumpfbeweglichkeit mit dem Wippen, Wegducken und Rückwärtsschnappen des Oberkörpers (Lee 1978/1989: 135ff., 144ff.). Im Widerspruch zur östlichen Ideologie wertete er den Angriff als oftmals beste Verteidigung auf (wenngleich zumeist eingebettet in einen Konter) und kämpfte mit der starken Körperseite vorn (Lee 1980a: 99; 1980b: 8ff.). Sein Jab (Fingerstich) verweist unmittelbar auf die Fechtkunst. An deren Meistern bewunderte er das punktgenaue Timing der Aktionen sowie vor allem den Stopp-Konter, bei dem der Angriff eines Gegners nicht erst abgewehrt, sondern durch einen blitzschnellen Gegenangriff abgeblockt wird (Lee 1978/1989: 66ff.).

Doch ungeachtet aller westlichen Stiladaptionen lief Bruce Lee nie Gefahr, seine Jun Fan Gung Fu-Kampfkunst einer völligen Versportlichung zu unterwerfen. Dazu waren seine Vorbehalte gegenüber dem regelgeleiteten Wettkampfsport zu groß: In diesem sei der reale Kampf zu einem Scheinkampf verkommen mit Beschränkung auf den (verkünstelten)Nicht- und Semi-Kontakt sowie der unangemessenen Diskreditierung des (natürlichen) Vollkontakts (Lee 1980a: 88, 98). Nie stand sein in den Tiefen des östlichen Geistes gründendes Kampfverständnis zur Disposition. Angelehnt an Laotses Bestimmung des Tao und der interaktiven Zweieinheit von ‚yin‘ und ‚yang‘ hielt er sich an die Maxime, möglichst natürlich, einfach, spontan, weich und dynamisch-fließend zu kämpfen (Lee 1978/1989: 45, 153). Sein Leitspruch, ein Kämpfer sollte sich wie das ‚Wasser‘ verhalten, verweist auf diesen Sachverhalt (vgl. Laotse 1995: Abschn. 78) und steht im krassen Gegensatz zur Hervorhebung von Kraft und physischer Stärke in der germanisch-westlichen Mythologie.

Anfänglich befürchtete er, durch Krafttraining seine außergewöhnliche Schnelligkeit einzubüßen. Erst als er sich überzeugen ließ, dass Kraft und Schnelligkeit sich nicht gegenseitig ausschlossen, sondern bei richtiger Dosierung härtere Schläge und Tritte erlaubten, integrierte er westliches Krafttraining in sein Übungsprogramm. Der großen Bedeutung der ‚Formen‘ in den traditionellen Kampfkünsten begegnete er mit der Aufwertung der körperlichen Fitness (Lee 1979: 8). Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Kräftigung seiner Arme und der Bauchmuskulatur. Am großen Sandsack übte er mit großem Erfolg das ‚Hindurchschlagen durch den Gegner. Fast täglich absolvierte er zudem einen Dauerlauf (von ca. 30 Minuten) und versuchte mit Seilspringen (vom Boxen) und dem Fahrrad-Ergometer seine Ausdauer und das Stehvermögen zu verbessern (ebd.:8ff.). Mit all diesen Maßnahmen griff er ungewöhnlich früh die Erkenntnisse der sich konstituierenden Trainingswissenschaft auf und war damit seiner Zunft weit voraus.

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3.3 Jeet Kune Do: Die religionsphilosophische Überhöhung seiner Kampfkunst

Mit der Gründung seiner dritten Kampfkunstschule in Los Angeles (1967/1968) fällt ein folgenschwerer Paradigmenwechsel zusammen: Standen in seiner Jun Fan Gung Fu-Phase der Kampf und die Suche nach technisch-konditioneller Perfektion im Mittelpunkt seines Interesses, rückte mit dem Namenswechsel Jeet Kune Do (‚Weg der abstoppenden Faust‘) die religionsphilosophische Überhöhung seiner Kampfkunst in den Vordergrund. Die äußere, körperlich-technische Nutzen-Orientierung wurde der inneren, Werte-besetzten Vervollkommnung des Selbst unterstellt – mit der Erleuchtung als höchstem Gut (Lee 1978/1989: 185).

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Bruce Lee östliche Aphorismen-Weisheiten eher benutzt, um seine unkundigen amerikanischen Gesprächspartner zu beeindrucken. Nun band er seine technische Westöffnung an die östliche Geisteshaltung des Zen-Buddhismus zurück (vgl. Brück: 2007b). Wie im japanischen Karate-Do und im koreanischen Taekwon-Do wurde damit die technisch-physische Fertigkeitsvermittlung verkoppelt mit der Erlangung des ‚wahren Lebens‘ in der kosmischen Leere des Tao bzw. der Buddha-Natur. Auf dem Weg dorthin oblag es reinigender Bewusstseinsarbeit, jegliches Besitz- und Erfolgsstreben, Sieg und Niederlage, Neid und Gier zurückzudrängen, um zu erkennen, dass jedes egologische Ich-Bewusstsein seiner eigentlichen, inneren Natur nach in der All-Einheit des reinen Bewusstseins (Buddha-Natur) gründet (Brück 2007a: 117ff.).

Im Zen-Buddhismus bereitet der Meister seine Zöglinge mit Strenge und anti-logisch-paradoxen Koans und Mondos auf den zumeist langwierigen und stets vom Scheitern bedrohten Sprung in die vom erdverhafteten Denken befreite Erleuchtung vor. Demgegenüber ist bei Bruce Lee das Heil-suchende Individuum völlig auf sich selbst gestellt. Mit Verweis auf Krishnamurtis Spiritualismus (1986; 1996) vertrat er eine Radikalposition, wonach das Individuum in absoluter Freiheit, jenseits aller gesellschaftlichen Theorien, Religionen und kulturellen Lehrmeister, einen gänzlich selbstbestimmten, ‚pfadlosen‘ Weg beschreiten muss, um zur ‚absoluten Wahrheit‘ (Erlösung) zu gelangen.

Dieser radikal-individualistische Ansatz schlug sich in Bruce Lees Jeet Kune Do-Kampfkunst in der Begrifflichkeit der „formlosen Form“ nieder (Lee 1978/1989: 26f.). An den traditionellen Kampfkunstschulen bemängelte er, sie erzögen ihre Schüler mit ihrer nach innen straff organisierten und nach außen streng abgeschotteten Technik- und ‚Formen‘-Schulung eher zu treuen Stil-Fetischisten, als dass sie der Offenheit und Unvorhersagbarkeit eines Straßenkampfes gerecht würden (ebd.: 19ff.). Diesen institutionell vorgegebenen Kampfstilen setzte er seinen individuell offenen (formlosen) Kampfstil entgegen. Danach fügt jeder Kampfkünstler eigenverantwortlich und stilüberschreitend jene Techniken

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zu einer Einheit zusammen, die sich aus seiner Sicht am besten für die Erfordernisse eines Kampfes eignen. Weit wichtiger als jeder Kampfstil ist für Bruce Lee zweifellos das auswählende, schöpferisch-kreative Individuum, welches Cross-over seinen eigenen Kampfstil finden muss.

Weniger Bruce Lees gelebte Gläubigkeit löste diese Zen-buddhistische Wende in seiner Jeet Kune Do-Kampfkunst aus als die Radikalisierung der Protestbewegung in Amerika Ende der 1960er-Jahre. Dieser umstürzlerische Zeitgeist mit militanter Auflehnung der Studenten gegen den Vietnamkrieg, bei gleichzeitiger Suche nach alternativen Lebens- und Gesellschaftsmodellen, weckte deren Interesse für fernöstliche Religion und Mystik. Vieles spricht dafür, dass Bruce Lee, der Selbsthilfe-Literatur zugetan, sich die wachsende Empfänglichkeit der Sinn-suchenden Amerikaner für die geheimnisvolle Weg-Mystik in den östlichen Kampfkünsten zunutze machte und weniger aus Überzeugung denn aus wirtschaftlichem Kalkül nachvollzog, was den Zulauf im Karate-Do erklärte. Gestützt wird diese These durch den extremen Individualismus, den er in seiner Jeet Kune Do-Kampfkunst vertrat, der deutliche Parallelen zum radikalen Freiheits- und Selbstverwirklichungs-Konzept der studentischen Polit-Utopisten aufweist mit ihrer harschen Kritik an den etablierten sozialen Institutionen Amerikas.

3.4  Action-Darsteller in Hollywood

Zeitlebens wichtiger als Zen-buddhistische Selbst-Findung waren für Bruce Lee Erfolg und Ruhm. Als er 1964 beim legendären Karate-Turnier von Ed Parker in Long Beach durch seine ‚one inch punch‘-Demonstration Hollywoods Interesse wecken konnte, schien sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung zu gehen: eine Karriere als Action-Star in Hollywood. Doch anstatt als Kampfkunst-erprobter Kato in der TV-Serie The Green Hornet (1966/1967) berühmt zu werden, wurde die Produktion wegen mangelndem Zuschauerinteresse vorzeitig eingestellt (Thomas 1994: 75ff.). In den folgenden zwei Jahren vermochte er nur in wenigen Gastauftritten bei TV-Serien (Ironside, Blondie) und Filmen (Marlowe) sowie als technischer Berater bei Kampfszenen sein Können als Kampfkunstexperte unter Beweis zu stellen (ebd.: 300ff.). Diese Kurzauftritte verdankte er besonders dem Drehbuchautor und Produzenten Stirling Sillivant, einem seiner Kung Fu-Schüler, der, um ihm aus der größten finanziellen Not zu helfen, kurze Action-Szenen in seine Drehbücher schrieb. Auch das Filmvorhaben The Silent Flute, nach einem Drehbuch von Sillivant (unter Mitarbeit von Bruce Lee) sowie mit James Coburn und Bruce Lee als Action-Akteure, scheiterte im Jahr 1969 an unüberbrückbaren Differenzen der Protagonisten (ebd.: 107ff.). Als sich zudem abzeichnete, dass die später weltberühmt gewordene TV-Serie Kung Fu (1972-1975) nicht mit ihm,

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einem Chinesen (und Ideengeber), sondern mit dem Kampfkunst-unerfahrenen weißen Schauspieler David Carradine in der Hauptrolle besetzt würde, entschloss er sich, nach Hongkong zurückzukehren.

Erleichtert wurde ihm seine Rückkehr im Sommer 1971 durch die vertraglich zugesicherte Hauptrolle in zwei Kung Fu-Filmen beim Golden Harvest Studio von Rymond Chow. Hilfreich hatte sich bei den Vertragsverhandlungen (u. a. mit den Shaw-Brüdern) erwiesen, dass seine Action-Darbietungen als Kato in der The Green Hornet-Serie vom Hongkonger TV-Publikum begeistert aufgenommen worden waren und dass die Kritiken aus Amerika über seine Rolle als Kampfkunstexperte in der TV-Serie Longstreet (seit 1970) durchweg positiv ausfielen.

4  Rückkehr nach Hongkong (1971-1973)

4.1  Hongkongs Entwicklung zum internationalen Wirtschaftszentrum

Während Bruce Lees Abwesenheit hatte der anhaltende Flüchtlingsstrom dafür gesorgt, dass die Einwohnerzahl Hongkongs von drei auf vier Millionen anstieg. Trotz Intensivierung des Wohnungsbaus (auch in den ‚New Territories‘) konnte die Zahl der Hüttenbewohner (‚Squatter‘) von weit über einer halben Million nie reduziert werden (Buchholz 1987: 15ff.). Die industrielle Umstellung auf qualitativ hochwertige Textilien, Spielsachen und Elektrogeräte (Radios, Fotoapparate, Bürogeräte) löste jedoch eine wirtschaftliche Hochkonjunktur aus, wodurch die Lebenslage auch der armen Bevölkerung spürbar verbessert wurde (Mäding 1964: 12ff.).

Die Rezession Mitte der 1960er-Jahre, ausgelöst durch Maos Kulturrevolution (1966-1976), konnte die Entwicklung Hongkongs zum internationalen Banken- und Handelszentrum nicht mehr stoppen (Bürklin 1993: 62ff.). Dies trug zu einer verstärkten Anpassung der in diesem Bereich tätigen Hongkong-Chinesen an westliche Kulturmuster bei, was sich in der Zunahme westlicher Bekleidung, westlicher Verhaltensweisen und westlicher Hochhäuser niederschlug. Hingegen blieben die vielen Handwerker, Bauern, Kleinhändler, Hafenarbeiter und Flüchtlinge ihrer chinesischen Tradition weitestgehend treu (Mäding 1964: 16ff.). Demzufolge spielten der im Konfuzianismus gründende Nepotismus im Geschäftsleben sowie der Einbezug von Geistern und spirituellen Praktiken im Alltag der Hongkong-Chinesen eine nach wie vor gewichtige Rolle.

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4.2  Bruce Lee als Filmschaffender

Was Bruce Lee bei seiner Ankunft kaum zu hoffen gewagt hatte, trat ein: Seine beiden ersten Filme The Big Boss (1971) und Fist of Fury (1972) beim Golden Harvest Studio lösten beim Hongkonger und südostasiatischen Kinopublikum wahre Begeisterungsstürme aus. Der große Erfolg, der sich in steigenden Rekordeinnahmen niederschlug, stellte sich auch bei seinem dritten Film The Way of the Dragon (1972) ein. In ihm fungierte er neben Rymond Chow als Koproduzent sowie als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller, um mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Einfluss am Set zu erhalten. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, nahm er noch im selben Jahr, ohne eine Pause einzulegen, die Dreharbeiten zu seinem vierten Film The Game of Death (1972) auf. Diese unterbrach er, als er von Warner Brothers das jahrelang vergeblich erhoffte Angebot erhielt, in einer chinesisch-amerikanischen Koproduktion die Hauptrolle zu übernehmen. Auch Enter the Dragon (1973), sein fünfter und letzter Film, übertraf alle Erwartungen. Durch den Vertrieb des Films im Osten (Golden Harvest) und im Westen (Hollywood) avancierte Bruce Lee über Nacht zum Weltstar, der dem chinesischen Kung Fu ‚Gesicht‘ und globale Bekanntheit verlieh. Doch bevor er The Game of Death fertigstellen und den Welterfolg seines letzten Films feiern konnte,starb er völlig unerwartet am 20. Juli 1973.

4.3  Enttraditionalisierung der Kampfkunstchoreografie

Der Begeisterungssturm, den Bruce Lees Filme auslösten, lässt sich nicht mit Verweis auf seine schauspielerische Leistung erklären. Seine sprachlichen, mimischen und gestischen Ausdrucksmittel waren eher begrenzt. Auch die simplen Plots, in die die Kämpfe eingebunden waren, sprechen kaum dafür. Anders verhält es sich mit der spektakulären Choreografie der Kämpfe, welche die Zuschauer in Ost und West euphorisierte und das Kung Fu-Genre revolutionierte.[3]

Verblüffend war die charismatische Präsenz, die Bruce Lee als Kämpfer ausstrahlte. Hochkonzentriert und mit wuchtigen Schlägen und Tritten dominierte er die Kampfszenen fast nach Belieben. Zweifellos profitierten seine Kampfchoreografien vom ungewöhnlich hohen und variantenreichen Technik-Repertoire, das er sich in Amerika beim jahrelangen Experimentieren und Suchen nach der besten Kampfkunst angeeignet hatte. Zur Erhöhung des Showeffekts setzte er ungewöhnlich hohe (Dreh-)Kicks ein, die seinen eigenen Kampfprinzipien widersprachen. Ansonsten kamen in seinen Kampfchoreografien die Einfachheit,

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Geradlinigkeit, Effizienz und situative Angepasstheit seiner Jeet Kune Do-Kampfkunst uneingeschränkt zur Geltung. Seien es die wiederholten Überraschungsangriffe, die blitzschnellen Tritt-Schlag-Kombinationen, die Stopp-Konter, das Tänzeln um den Gegner herum oder der Bodenkampf, in allen Kampfszenen versuchte Bruce Lee mit einer Choreografie auf höchstem Niveau zu überzeugen. Erwähnt sei nur der legendäre Kampf im Kolosseum in Rom zwischen Tang Lung (Bruce Lee) und Colt (Chuck Norris) in The Way of the Dragon (1972: 82.-89. Min.), der Eingang fand in die Filmgeschichte und den jeder Kampfkunst-interessierte Cineast kennt.

Den dramaturgischen Effekt in seinen Kampfchoreografien erhöhte Bruce Lee durch lange Kameraeinstellungen und wenige ‚cuts‘. Nichts überließ er dem Zufall. Falls erforderlich, wiederholte er eine Kampfszene x-mal, bis der spielerische Fluss der Aktionen und das harmonische Zusammenwirken aller Akteure die harte Arbeit vergessen ließen, die dahintersteckte. Aufhorchen ließ der ‚realistic turn‘, den er konträr zum vorherrschenden Mystizismus in den traditionellen Kung Fu-Filmen, Mandarin Musicals und historischen Kostüm-Epen der Hongkonger Filmfabrik (Shaw-Brüder) anstrebte (Ting 2006: 195; Teo 1997: 112f.). Um möglichst realitätsnah zu sein, lehnte er die Zuhilfenahme von Seilen und Trampolinen bei seinen Kampfchoreografien rigoros ab und arbeitete weitgehend ohne Double. Vor allem in den ersten 43 Minuten von The Big Boss (1971) kommt das von der Pekinger und kantonesischen Oper herrührende mystische Element noch voll zur Geltung: Staunend stellt ein westlicher Zuschauer fest, dass die Kämpfer, nachdem sie niedergeschlagen wurden, sofort wieder aufstehen und weiterkämpfen. Erst als Cheng Li (Bruce Lee) in der 43. Minute des Films in die Massenschlägerei eingreift, wird die Kampfchoreografie realistischer, wirklichkeitsnäher, glaubwürdiger. Die Niedergeschlagenen und Besiegten bleiben nun liegen und greifen nicht mehr in das Kampfgeschehen ein. Höchst befremdlich für westliche Zuschauer waren außerdem die vielen Hoch- und Übersprünge, mit denen der Angriff eines Gegners abgewehrt oder ein über zwei Meter hohes Eingangstor (aus dem Stand) überquert wurde.

Allerdings konnte sich Bruce Lee den mystischen Einflüssen seiner chinesischen Herkunft nie ganz entziehen. Nur so lassen sich die titanischen Kräfte erklären, mit denen Chen (Bruce Lee) in Fist of Fury (1972: 57. Min.) die Rikscha mitsamt ihrem Insassen hochhebt und gegen die Wand schleudert. Ganz zu schweigen von der Kraftdemonstration des russischen Kämpfers Petrov, der vor japanischen Dojo-Schülern Eisenstangen verbiegt und Nägel mit der bloßen Hand in ein Brett einschlägt (67.-69. Min.). Und obwohl Bruce Lee als Koproduzent und Regisseur in The Way of the Dragon (1972) völlige Gestaltungsfreiheit hatte, überrascht die Konterkarierung seines Realitätsanspruchs durch den

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Einsatz selbstgefertigter Holzpfeile (Darts), mit denen Tang Lung (Bruce Lee) die Gangster bekämpft.

Bruce Lee bevorzugte den waffenlosen Kampf. In seinen Kampfchoreografien kämpfte er jedoch auch mit Messern, Stöcken und einem Nunchaku, der Waffe der Bauern, Entrechteten und Aufständischen. Im Westen weitgehend unbekannt, konnte er mit dem meisterhaften Umgang des Nunchaku in mehreren Kämpfen die Begeisterung der Kinogänger entfachen. Wie gefährlich diese Waffe bei entsprechender Schulung war und – vor allem – wie vorteilhaft er sich mit ihr in Szene setzen konnte, bewies er in Fist of Fury (1972: 13. Min.) bei einem Kreiskampf gegen weit mehr als ein Dutzend japanischer Dojo-Schüler, oder auch in The Way of the Dragon (1972: 48.-51. Min.) gegen acht bewaffnete Gangster.

Der hohe Bekanntheitsgrad des japanischen Karate-Do in Amerika und die weitgehende Unkenntnis des chinesischen Kung Fu waren für Bruce Lee ein stetiges Ärgernis. Für ihn war seine individuell-formlose Kampfkunst dem standardisierten Karate-Do in allen Belangen überlegen. Hierin gründet seine offene und versteckte Kritik am Karate-Do in seinen Filmen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Szene in The Way of the Dragon (1972: 30. Min.), als ein Karate-erfahrener Kellner einen Gangster zum Kampf herausfordert. Dieser schlägt ihn jedoch mit dem ersten Boxhieb k. o. Daraufhin schaltet sich Tang Lung (Bruce Lee) ein und macht dem Gangster mit zwei blitzschnellen Kick-Attacken unmissverständlich klar, worin der Unterschied zwischen japanischem Karate-Do und chinesischem Boxen liegt. Subtiler fällt die Kritik in Enter the Dragon (1973: 41.-42. Min.) aus, wo Lees leichtfüßiges Morgentraining den Kontrast zum darauffolgenden Bewegungs-Drill der Männer im weißen ‚gi‘ bildet.

Im Filmfragment The Game of Death (1972) rückte Bruce Lee seine individuell-formlose Kampfkunst ins Zentrum des Films. Hai Tien (Bruce Lee) als Stil-offener Kampfkünstler sollte auf jeder Etage der Pagode gegen einen anderen Meisterstilisten kämpfen.[4] Während seine Gegner stereotyp am standardisierten Technik-Repertoire ihres jeweiligen Kampfstils festhielten, passte Hai Tien Technik und Taktik flexibel der jeweiligen Kampfsituation und dem jeweiligen Kampfstil seines Gegners an. Einfallsreich sucht er nach Mitteln und Wegen, wie er seine Gegner besiegen kann. Auf der dritten Etage gelingt ihm dies erst, als er den Escrima-Meister beim Kampf mit einem Nunchaku urplötzlich mit (Dreh-)Kicks gegen dessen Kopf übertölpelt (Little 2000: 70. Min.; Clouse 1978: 80. Min.). Auf der vierten Etage kann er den Hapkido-Meister erst bezwingen, als er dessen

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wiederholte Armdrehwürfe mit einem Stopp-Konter erfolgreich abwehrt (Little 2000: 78. Min.). Den Höhepunkt des Films aber bildet Hai Tiens Zusammentreffen auf der fünften Etage mit einem Gegner, der wie er selbst über einen individuell variablen Kampfstil verfügt. Entsprechend offen gestaltet sich der Kampf, bis Hai Tien die Beeinträchtigung seines Gegners durch ein Augenleiden erkennt und dieses Handicap rigoros zu seinem Vorteil ausnutzt (Little 2000: 88.-92. Min.; Clouse 1978: 84.-85. Min.).

Höchst problematisch erwies sich das hohe Gewaltpotenzial in Bruce Lees Kampfchoreografien. Offenbar war er der Ansicht, den (westlichen) ‚realistic turn‘ in den Kämpfen mit einer hohen Gewaltästhetik verbinden zu müssen. Dies schlug sich in einer schockierenden Grausamkeit und Brutalität der Bilder nieder. Besonders in Fist of Fury (1972) zeigt Chen (Bruce Lee) als Rächer seines ermordeten Meisters nicht jene kühle Distanziertheit und Abgeklärtheit im Kampf, die einen wahren Kampfkunstmeister auszeichnen. Vielmehr tötet er wie von Sinnen, abgründig erregt und mit irrwitzigem Gesichtsausdruck. Die tierähnlichen Laute, die er dabei ausstößt, unterstreichen das Animalische der Situation. Die Kritiker störte insbesondere der bei vielen Kämpfen zutage tretende Voyeurismus beim Tötungsakt und bei vielen grenzwertigen Gewaltaktionen. Trotz ihres weltweiten Erfolgs wurden die Filme von Bruce Lee daher in Deutschland und vielen anderen Ländern von der Filmzensur verboten oder durften nur in gemäßigter Fassung gezeigt werden.

4.4  Plot und kulturhistorischer Hintergrund der Filme

Wie im klassischen amerikanischen Western greift das Narrativ in Bruce Lees Filmen den archetypischen Kampf zwischen den guten und bösen Mächten und einem von außen kommenden Helden auf, der die Gemeinschaft der Guten von der Willkür- und Schreckensherrschaft der Bösewichte und Gauner befreit.

Unverschuldet in Not gerät in The Big Boss (1971) eine chinesische Gruppe von Neffen, die in einer thailändischen Eisfabrik beschäftigt ist, deren Chef einen illegalen Drogenhandel betreibt. Als zwei Neffen zufällig den Schwindel aufdecken, sich jedoch nicht bestechen lassen, werden sie heimlich ermordet. Durch die Suche nach den verschwundenen Neffen sieht Boss Mi seinDrogengeschäft in Gefahr, weshalb er alle Neffen töten lässt. Wie in seinen späteren Filmen tritt Bruce Lee als Rächer der ermordeten Neffen auf und tötet Boss Mi und dessen Sohn, nachdem er sich von deren Schuld überzeugt hatte.

In Fist of Fury (1972) wird eine chinesische Kampfkunstschule im von Japan besetzten Shanghai von einer rivalisierenden japanischen Kampfkunstschule tyrannisiert. Als Chen (Bruce Lee) in Erfahrung bringt, dass sein Meister Huo keines

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natürlichen Todes gestorben ist, sondern zwei Köche ihn im Auftrag des Leiters der japanischen Kampfkunstschule vergiftet hatten, übt er Rache am Auftraggeber und seinen Helfern, während zur gleichen Zeit japanische Kampfkunstschüler die chinesische Kampfkunstschule überfallen und alle anwesenden Schüler töten.

Anknüpfend an Motive des ersten Films werden in The Way of the Dragon (1972) eine chinesische Restaurantbesitzerin, ihr Onkel Wang und die Kellner im italienischen Rom von Gangstern unter Druck gesetzt, sie möge ihr Restaurant an sie verkaufen. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, schikanieren die Gangster die Gäste oder hindern sie am Betreten des Restaurants. Der um Hilfe gebetene Tang Lung (Bruce Lee) bekämpft allein sowie gemeinsam mit den Kellnern die Gangster und besiegt zu guter Letzt die vom Gangsterboss angeheuerten namhaften Kampfkunst-Meister.

Vielschichtiger ist die Handlungsstruktur in Enter the Dragon (1973) angelegt. Offiziell soll Lee (Bruce Lee) bei einem Kampfkunst-Turnier verdeckt Beweise vom illegalen Drogen- und Prostitutionsgeschäft von Han, einem abtrünnigen Shaolin-Mönch, auf dessen Insel erbringen. In Wirklichkeit nimmt er den Auftrag nur an, um den Selbstmord seiner Schwester Su Lin zu rächen, die ein Leibwächter von Han in den Tod getrieben hatte. Bei einem der Turnierkämpfe trifft Lee auf den Leibwächter und tötet ihn, ohne dass dieser ahnte, dass er gegen den Bruder von Su Lin kämpfte. Des Nachts erkundet Lee heimlich die Insel und entdeckt das unterirdische Hauptquartier von Han mit gefangenen Frauen und Männern. Am folgenden Turniertag verbündet er sich mit einem Turnierteilnehmer, und beide kämpfen, unterstützt durch die befreiten Gefangenen, erfolgreich gegen die Männer von Han. Als beim Massenkampf Han und Lee aufeinandertreffen und Han seine Dreizack-Prothese verliert, flüchtet dieser in seine Gemächer, wo er beim Showdown im Spiegellabyrinth-Saal von Lee getötet wird.

Gemessen am Narrativ der heutigen Kampfkunstfilme ist die Euphorie, die Bruce Lee mit seinen ersten drei Hongkong-Filmen beim ost- und südostasiatischen Kinopublikum auslöste, nur schwer nachzuvollziehen. Es sind typische Low-Budget-Filme mit vielen Actionszenen und dürftigem Plot, die in wenigen Wochen produziert wurden. Erklären lässt sich die Begeisterungswelle nur unter Einbezug der polit-historischen Rahmenbedingungen, die in die gefühlsbeladene Sichtweise der chinesischen und südostasiatischen Zuschauer mit einflossen:

Nicht vergessen haben die Chinesen bis heute die Demütigungen und die Schmach, die China im 19. Jahrhundert durch die beiden verlorenen Opiumkriege (1839-1842; 1856-1860) und die von den Westmächten erzwungene Öffnung strategisch wichtiger Hafenstädte für ihre Handelsschiffe erfahren hat. Hierauf basiert die Kolonialherrschaft der Briten in Hongkong, die über Jahrzehnte durch

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rassistische Vorurteile und herablassende Geringschätzung der Hongkong-Chinesen gekennzeichnet war. Trotz der nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleiteten Demokratisierungsmaßnahmen der Briten war Anfang der 1970er-Jahre zumindest für die ältere Generation der (Hongkong-)Chinesen diese leidvolle Vergangenheit noch höchst präsent.

Um ein Vielfaches traumatischer erlebten die Menschen zumindest im Nordosten Chinas die japanische Kolonialherrschaft. Durch die gewonnenen Kriege gegen China (1894-1895) und Russland (1904-1905) rückte Japan zur neuen Großmacht in Ost- und Südostasien auf. China, geschwächt durch innere Unruhen, den Zusammenbruch des Kaiserreichs (1911) und einen Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg (bis 1949), musste die gewaltsame Annexion der Mandschurei (1931) durch Japan hinnehmen. Bei der folgenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen beiden Staaten (1937-1945) kam es auch zur Besetzung Hongkongs in den frühen Kindheitstagen von Bruce Lee. Neben Hungersnot, Elend und Massenflucht blieben den Chinesen sowie im Zweiten Weltkrieg den südostasiatischen Anrainerstaaten insbesondere die verstörende Brutalität der japanischen Armee im kollektiven Gedächtnis haften – und belastete das politische Verhältnis Japans zu seinen Nachbarstaaten noch jahrzehntelang.[5]

So simpel die Plots in Bruce Lees ersten drei Filmen daher auch waren, sie erlaubten es dem chinesischen und südostasiatischen Zuschauer, bildgewaltige Assoziationen zu seiner eigenen, oft leidvollen Lebensgeschichte herzustellen. Auffallend ist Bruce Lees Hang zur Idealisierung der chinesischen Gemeinschaften. Seine primär chinesische Sozialisation, kombiniert mit seinen Kindheits- und Jugendjahren in den von Flüchtlingen überfluteten Straßen Kowloons, mögen mit dazu beigetragen haben, dass er Chinesen bevorzugt als einfache, anständige und traditionsbewusste Menschen charakterisierte (Landarbeiter, Bauern). Deren Orientierung am konfuzianischen Welt- und Menschenbild zeigt sich in der harmonischen Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft sowie der Ehrerbietung des Jüngeren gegenüber dem Älteren (Onkel, Mutter) bei gleichzeitiger Hervorhebung eines solidarischen Für- und Miteinanderseins (Konfuzius 1998: I-2, II-5). Allerdings verleugnet Onkel Wang in The Way of the Dragon (1972: 76.-77. Min.) den moralischen Sittenkodex seiner Vorfahren und ermordet in Erwartung einer hohen Belohnung vom Gangsterboss zwei Kellner hinterrücks.

Den Gegenpol zur heilen Welt der Chinesen bilden im ersten und dritten Film die Gangster. Um ihr Ziel zu erreichen, ist ihnen jedes Mittel recht. Auch vor Mord schrecken sie nicht zurück. Mit ihrer Skrupellosigkeit weisen sie Verhaltensmuster auf, die viele Asiaten zumindest unterschwellig den geschäftstüchtigen

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Europäern, Kolonialisten und Weißen zuschrieben. Auf subtile Weise klingt dies in der Szene mit dem Gangsterchef in The Big Boss (1971: 66. Min.) an, als dieser beteuert, er wisse nichts über den Verbleib der vermissten Neffen. Für ihn seien die Arbeiter in der Eisfabrik seine „Familie“, um die er sich sorge und kümmere. Damit verleugnete er nicht nur die Ermordung der Neffen, sondern verhöhnte gleichzeitig den tief in der Historie verwurzelten konfuzianischen Familismus in China und vielen südostasiatischen Nachbarstaaten.

Eine beispiellose transasiatische Popularität erlangte Fist of Fury (1972). Die offenen und verdeckten Anspielungen auf die kolonialen Willküraktionen und gefürchteten Vergeltungsmaßnahmen der Japaner in China und generell im südostasiatischen Raum wiesen weit über die Rivalität zweier Kampfkunstschulen hinaus. Gleich zu Beginn des Films wird diese Thematik aufgegriffen, als die chinesischen Kampfkunstschüler von einer Abordnung der japanischen Kampfkunstschule als „Feiglinge“undSchwächlinge“ beschimpft und gedemütigt werden (5.-6. Min.). Hinweise für die große Brutalität der japanischen Armee lieferten vor allem die beiden Überfälle der japanischen Schüler auf die chinesische Kampfkunstschule. Werden beim ersten Überfall die Kampfstätten lediglich verwüstet, sollen beim zweiten auf Geheiß des japanischen Kampfschulleiters ausnahmslos alle chinesischen Schüler getötet werden (72. Min.). Aus eigener bitterer Erfahrung konnten viele südostasiatischen Zuschauer die hier angedeutete Unerbittlichkeit und Grausamkeit der japanischen Armee nachempfinden. Viele Chinesen aber stellten den Bezug zum Massaker von Nanking (1937) her, wo fernab der japanischen Samurai-Ritterlichkeit weit über 200.000 chinesische Gefangene und Zivilisten auf brutalste Weise umgebracht wurden.

Indem Bruce Lee als Chen in Fist of Fury (1972) die Beleidigungen und Erniedrigungen der japanischen Kampfkunstschule nicht einfach hinnahm, sondern sich unerbittlich zur Wehr setzte, übermittelte er die Botschaft, dass für Chinesen und alle Unterdrückten der Zeitpunkt gekommen sei, ihre koloniale Unterwürfigkeit und Passivität abzustreifen und Widerstand zu leisten gegen jahrzehntelange Demütigungen und ehrrührige Diskriminierungen jeglicher Art (Kato 2007: 39ff.). Stärker als in seinen anderen Filmen verkörperte er den wiedererstarkten chinesischen Drachen, der sich gegen den ‚Gesichtsverlust‘ Chinas vom stolzen ‚Reich der Mitte‘ zum ‚kranken Mann Asiens‘ auflehnte. Zwei Szenen verdeutlichen dies besonders drastisch: Zum einen, als Chen voller Wut ein Verbotsschild zertrümmert, das „Hunden und Chinesen“ das Betreten eines Parks untersagt (20. Min.), und zum anderen, als er ohne Vorwarnung einen jungen Japaner verprügelt, der ihn in den Park zwar mitnehmen wollte, aber nur, wenn er wie ein Hund „auf allen vieren“ läuft (21. Min.). Als Chen schließlich im finalen Kampf in Umkehrung der historischen Ereignisse mit einem Nunchaku den mit einem Samurai-Schwert kämpfenden Leiter der japanischen Kampfkunstschule besiegt,

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vermischte sich der rassistisch eingefärbte Jubelschrei der chinesischen Zuschauer in Hongkong, Südostasien und den Chinatowns weltweit mit der insgeheimen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Besonders westliche Kritiker aber sahen sich durch Fist of Fury (1972) in ihrem Vorwurf bestätigt, Bruce Lee wolle in seinen Filmen nicht nur das ramponierte Selbstwertgefühl der Chinesen stärken, sondern leiste einem panchinesischen Rassismus Vorschub.

Enter the Dragon (1973), die chinesisch-amerikanische Koproduktion, wurde erst durch den politischen Umschwung ermöglicht, den Nixons Ping-Pong-Diplomatie auslöste. Von vornherein für ein internationales Publikum konzipiert, war ein übertriebener chinesischer Patriotismus ebenso fehl am Platz wie eine maßlose Hollywoodisierung des Kung Fu-Genres. Stattdessen wurde eine gewisse Ost-West-Ausgewogenheit im Plot, in der Besetzung der Kampfkünstler sowie in der Choreografie der Kämpfe angestrebt. Hollywood stellte das Budget zur Verfügung sowie den Regisseur, den Drehbuchautor und den Kameramann. Chows Hongkonger Filmstudio wiederum war für das Setting vor Ort sowie die Besetzung der Komparsen zuständig. Durch die gegenseitige kulturelle Fremdheit der Akteure blieben Konflikte nicht aus. Zerstört wurde das Klischee vom ‚guten Chinesen‘ durch Han, einen Chinesen, der das diabolisch Schlechte verkörperte und in Umkehrung der kolonialen Vergangenheit auch Weiße beschäftigte. Höchst verwundert nahmen Bruce Lee-Kenner zudem wahr, dass dieser seine Vorbehalte gegenüber den japanischen Kampfkünsten kurzerhand zur Seite schob, um des Nachts, schwarz gekleidet wie ein Ninja-Kämpfer, die Insel von Han zu erkunden (47.-52. und 67.-71. Min.). Der Welterfolg des Films aber ließ vergessen, dass das chinesische Publikum die Präsenz Hollywoods im Mutterland des Kung Fu argwöhnisch verfolgte. Bruce Lee, ihrem umjubelten Superhelden vergangener Tage, aber hielten viele seiner chinesischen Fans vor, sich im Film als ‚Marionette‘ einer ausländischen (weißen) Macht verdingt zu haben (Gaul 1997: 121).

5  Schlussbemerkung

Bruce Lees Kampf- und Filmkunst ist untrennbar mit seiner Lebensgeschichte verbunden, die im Spannungsfeld seiner chinesischen Herkunft, dem politischen Sonderstatus Hongkongs sowie den turbulenten Jahren im amerikanischen Exil gründet. Vornehmlich fußt seine Persönlichkeit im konfliktbeladenen In- und Gegeneinander von östlicher und westlicher Kultursphäre sowie der sich ankündigenden Ablösung der modernen Industriegesellschaft durch die postmoderne Informationsgesellschaft.

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Trotz der Integration westlicher Technik- und Stilelemente in seine Jeet Kune Do-Kampfkunst blieb Bruce Lee dem östlichen Geist und dem jahrhundertealten Vermächtnis der chinesischen Kampfkünste verpflichtet. Obgleich Mitte des 20. Jahrhunderts die Schutzfunktion der Kampfkünste gegenüber Räubern und Banditen immer entbehrlicher geworden war, bestärkte er mit dem Beharren auf dem Straßenkampf in der Tradition der ‚Plattformkämpfe‘ das archaische Element. Damit trug er zur kritisch begleiteten Verdrängung des Nicht- und Semi-Kontakts durch den Vollkontakt in vielen verwestlichten Kampfkünsten ebenso bei wie zur wachsenden Popularität der Mixed Martial Arts. Postmodern revolutionär waren hingegen seine Vorbehalte gegenüber dem starren Korsett institutionell vorgegebener Techniken und ‚Formen‘ an den traditionellen Kampfkunstschulen, denen er seine individuell-formlose Kampfkunst entgegensetzte, die stilübergreifend und transkulturell konzipiert war. Dadurch kann er zu den frühen Pionieren einer selbstbestimmt-hybriden Patchwork-Kampfkunst gezählt werden, die trotz aller anti-institutionellen Übertreibungen prinzipiell wegweisend war.

Zukunftsweisend war auch der ‚realistic turn‘ in Bruce Lees Kampfkunstchoreografie. Diese Wende vollzog er, indem er die Kampfszenen möglichst realitätsnah inszenierte. Ferner wurden die mystischen Wuxia-Epen durch realistischere und stärker gegenwartsbezogene Heldengeschichten ersetzt. Zurückgreifen konnte er dabei auf seine Erfahrungen als Action-Darsteller sowie als technischer Berater von Kampfszenen in Hollywood fernab jeglicher Mystik. Damit kann er zu den Wegbereitern der in den späten 1970er-Jahren einsetzenden New Wave-Bewegung des Hongkonger Kinos gezählt werden. Deren junge, experimentierfreudige Filmemacher, zumeist in Hongkong geboren und aufgewachsen, kehrten nach ihrer Ausbildung an vorwiegend westlichen Filmhochschulen in ihre Heimat zurück und reformierten, ohne ihre chinesische Herkunft zu verleugnen, mit einem Mixed aus Komödie und Drama, westlichem Realismus und östlichen Phantasmen die Hongkonger Filmindustrie (Teo 2000: 101ff.).

Der Ethno-Nationalismus in Bruce Lees Filmen war keineswegs ungewöhnlich für das Hongkonger Kino Ende der 1960er-Jahre. In Distanz zu Maos kommunistischem Festland-China wie zur britischen Besatzungsmacht beriefen sich die historischen Film-Epen jener Zeit vor allem auf einen in der chinesischen Kultur gründenden ‚überstaatlichen‘ Nationalismus, der für Teo (1997: 110ff.) auch den Filmen von Bruce Lee zugrunde lag. In ihnen komme jener abstrakte, apolitische Nationalismus zur Geltung, der tief verwurzelt war in der Welt der Ahnen und den konfuzianisch-taoistischen Werten der chinesischen Mutterkultur, die Hongkongs Festland-Flüchtlinge mit den Übersee-Chinesen verband. Dieser kulturhistorische Nationalismus begründete den Stolz der Chinesen und linderte das Leid, die Vorurteile und Diskriminierungen, die viele Hongkong- und Exil-Chinesen in der jüngeren Vergangenheit erfahren hatten. Und er trug zur romantischen

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Identifizierung der chinesischen Zuschauer mit dem filmischen Rebellen und Rächer in Bruce Lees Filmen bei, vermengt, zumindest in Fist of Fury (1972), mit Ansätzen eines hintergründigen Ethno-Rassismus. Demgegenüber sahen westliche Zuschauer in Bruce Lee eher den narzisstischen, mit nacktem Oberkörper kämpfenden Action-Hero, der ihnen mit seinen Filmen die geheimnisvolle ‚Welt der Suzi Wong‘ von einer ganz anderen Seite näher brachte.

Ähnlich wie Funakoshi (2007) im Karate-Do die Kampftechniken der okinawanischen Bauern und Fischer mit Hilfe religionsphilosophischer Prinzipien ‚japantauglich‘ machte, verschmolz Bruce Lee erst im Nachhinein seine Kampfkunst-Grundsätze mit Zen-buddhistischem Vollkommenheitsstreben. Zwischen dem proklamierten Erhabenheits-Ideal und seiner praktischen Umsetzung tat sich jedoch eine tiefe Kluft auf. Realiter interessierten ihn der Straßenkampf und die Suche nach den effektivsten Kampftechniken weit mehr als der beschwerliche Weg innerer Läuterung. Auch in seinen Filmen wird explizit nur in der Eingangsszene von Enter the Dragon (1973: 3. Min.) ein religionsphilosophischer Bezug hergestellt: Die dort gezeigte mystisch-formelhafte Einweisung eines Shaolin-Schülers in die Geheimnisse Zen-buddhistischer Kampfkunst stand jedoch in krassem Widerspruch zu den folgenden Gewaltszenen des Films. Und je näher Bruce Lee seinem Lebensziel kam und einer der Großen in Kampfkunst und Kampfchoreografie wurde, umso mehr entfernte er sich von den religionsphilosophischen Grundsätzen seiner Jeet Kune Do-Kampfkunst. Unfähig, den Wahn des Begehrens (Buddha Gautama) zu durchbrechen, wurde er zum Getriebenen seines Erfolgs, bis schließlich die Gier nach Ruhm und Anerkennung tödlich Besitz von ihm ergriff, weit entfernt von den himmlischen Höhen eines wahrhaft ‚Weisen‘.

Kritiker können gewichtige Argumente gegen Bruce Lees Eintreten für Vollkontakt, freien Kampf und einen individuell-formlosen Kampfstil vorbringen. In Deutschland verhinderte die durch die Filmzensur vorgenommene Verurteilung des hohen Gewaltpotenzials in seinen Filmen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinem Werk. Hingegen vertreten viele Kampfkunstexperten die Ansicht, Bruce Lee habe einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Kampfkünste und der Kampfchoreografie geleistet. Als Grenzgänger zwischen Ost und West sowie als Zeitzeuge der sich ankündigenden Postmoderne sorgte er mit seinen Technik-Innovationen für eine transnationale und stilübergreifende Öffnung der Kampfkünste. Darüber hinaus revolutionierte er das Kung Fu-Genre zukunftsweisend, indem er es unter Abschwächung seiner mystischen Ausrichtung auf eine realere Basis stellte. Die auf Vermarktung ausgerichtete Verklärung von Bruce Lees Leben und Werk durch seine Witwe Linda und deren Hauptbiograf John Little (1999) trug zu einer anhaltenden posthumen Kult-Hysterie seiner Anhänger bei, aber auch zur Ausblendung seiner ‚dunklen Seiten‘. Hier Klarheit zu

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schaffen und Wahrheit und Mythenkonstruktionen voneinander zu trennen, sollte nicht nur der anglo-amerikanischen Wissenschaft vorbehalten bleiben. Die Ineinssetzung von Person und Werk mit dem Gewaltszenarium in seinen Filmen, zumal unter Ausblendung des inhärenten kolonialen Zeitfensters, mag zu einseitigen Pauschalverurteilungen beigetragen haben, sie wird aber Bruce Lees Lebenswerk mit all seinen Höhen und Tiefen nicht annähernd gerecht.

Anmerkungen

[1] Vgl. zur sozio-politischen und ökonomischen Lage Hongkongs in den 1940er- und 50er-Jahren Morris (1991: 403ff.) sowie Gornig (1998: 41ff.).

[2] Vgl. zu Amerika in den 1960er-Jahren Kohlpoth (2007: 181ff.) sowie Sautter (2006: 475ff.).

[3] Vgl. zur Kampfchoreografie sowie zu Plot und kulturhistorischem Hintergrund von Bruce Lees Filmen Hägele (2021: 85ff.) sowie Gaul (1997: 51ff.) und Thomas (1994: 125ff.).

[4] Vor seinem Tod hatte Bruce Lee nur die berühmt gewordenen Pagodenkämpfe auf der dritten, vierten und fünften Etage abgedreht. Die Rohfassung dieser Kämpfe wurde von John Little (2000) veröffentlicht. Im inhaltlich stark veränderten Hollywood-Film Game of Death von 1978 übernahm Regisseur Clouse nur die redigierten Kampfszenen mit Dan Inosanto auf der dritten Etage und Kareem Abdul-Jappar auf der fünften Etage.

[5] Vgl. Kato (2007: 23ff.), Pilz et al. (2004: 15ff.), Osterhammel (1999: 29ff.), Pilz (1999: 67ff.) sowie Ladstätter und Linhart (1983).

6  Literatur

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7  Verzeichnis der Filme / Regisseure

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Clouse, Robert (1978): Game of Death (Bruce Lee – Mein letzter Kampf). DVD 1993.

Lee, Bruce (1972): The Way of the Dragon (Die Todeskralle schlägt wieder zu). DVD 1993.

Little, John (2000): Bruce Lee – A Warrior‘s Journey. DVD 2000.

Wei, Lo (1971): The Big Boss (Die Todesfaust des Cheng Li). DVD 1993.

Wei, Lo (1972): Fist of Fury (Todesgrüße aus Shanghai). DVD 2010.