Aufsatz*


Baseballer fängt Ball im Liegen

Ethik in der Sportwissenschaft

Hägele. W.: Ethik der Anwendung oder Ethik der Sportwissenschaft? Wissenschaftstheoretische Anmerkungen zur „Berufsethik für Sportwissenschaftler“ von J. R. Nitsch/K. Willimczik. In: Sportwissenschaft 23 (1993), 1, S. 70-74. 

Schlüsselwörter

Grundlagenforschung; angewandte Forschung; Wissenschaftsethik; M. Weber; Wertfreiheitspostulat; Merton; Wissenschaftsnormen; Wissenschaftsethos; (Mit-)Verantwortung der Sportwissenschaft

< Original S. 70 >

1 Vorbemerkung

Ethikfragen haben heute in und außerhalb der Wissenschaft einen hohen Stellenwert erlangt. Zunehmend wird die naive Fortschrittsgläubigkeit der Vergangenheit problematisiert und die überzogene Ideologie technokratischer Machbarkeit in Frage gestellt. Gleichwohl wird die ethische Verantwortung der Wissenschaft kontrovers diskutiert. In den „Prinzipien einer Berufsethik für Sportwissenschaftler“ von NITSCH/WILLIMCZIK in der Zeitschrift „Sportwissenschaft“ (1990, S. 317-323) kommt diese Heterogentität der Standpunkte nicht zum Ausdruck. Gewöhnlich werden in der Auseinandersetzung um wissenschaftsethische Fragen drei Positionen unterschieden: (1) Moralische Ansprüche werden unter dem „Wertfreiheitspostulat der Wissenschaft“ zurückgewiesen. (2) Die Verantwortung der Wissenschaft beschränkt sich auf die angewandte Forschung („Ethik der Anwendung“). (3) Moralische Prinzipien gelten sowohl für Grundlagen- als auch angewandte Forschung („Ethik der Wissenschaft“). Es gilt daher,  a) den derzeitigen wissenschaftstheoretischen Diskussionsstand zunächst aufzuzeigen, sodann b) den Bezug zur Sportwissenschaft herzustellen sowie c) mögliche Konsequenzen für die Sportwissenschaft zu diskutieren.

2 Das Wertfreiheitspostulat der Wissenschaft

Der Deutsche Idealismus und die HUMBOLDT’sche Universitätsreform konstituierten in Deutschland ein Wissenschaftsverständnis, das die Wissenschaft allein der Wahrheit verpflichtete. Wissenschaftliche Objektivität hat danach prinzipiell wertneutral zu sein. Frei von äußeren Reglementierungen und sozialen Verpflichtungen, soll die Wissenschaft allein der Maximierung der Erkenntnis dienen.

Als entschiedener Verfechter dieses apolitischen Wissenschaftsideals des 19. Jahrhunderts gilt M. WEBER (1985), der die Selbstbescheidung der Wissenschaftler auf bloße Tatsachenfeststellungen forderte, frei von normativen Setzungen, da sonst das volle Verstehen der Tatsachen aufhöre. Nicht ethische oder sonstige weltanschaulich begründete Wertungen seien im Hörsaal gefragt, sondern rein fachliche Schulung und intellektuelle Rechtschaffenheit. Eine in diesem Sinne wertfreie Wissenschaft schließt nicht aus, dass alles menschliche Handeln auf Werten und letzten Wertaxiomen beruht, sie trennt nur strikt objektiv-rationale Sachaussagen von normativen Sollensforderungen und irrationalen Glaubensfragen.

Dieses dezisionistische Wissenschaftsmodell WEBERs findet im Wissenschaftsethos von MERTON (1985) seine Entsprechung. Die Wissenschaftsnormen des Universalismus, der

< Original S. 71 >

Kommunalität, des Skeptizismus und der Uneigennützigkeit sind nämlich nicht ethisch im eigentlichen Sinne, haben also nicht die Unversehrtheit anderer zum Ziel, sondern sind lediglich intern gerichtete Zunftregeln zur Erlangung bestmöglicher objektiver Erkenntnis. Die wissenschaftliche Neugier nimmt nicht am wie immer bestimmten Guten Maß, sondern ist einzig und allein dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtet. Das Wozu der Forschung wird nicht gestellt, geschweige denn beantwortet.

Gerade an diesem Punkt setzt das verantwortete Wissenschaftsparadigma an. Angesichts der verheerenden Folgen destruktiven Wissens könne und dürfe das Wertfreiheitspostulat nicht länger Leitidee der modernen Wissenschaft sein. Auch die Wissenschaft habe dem Gemeinwohl zu dienen. Dies bedinge, dass die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse mitreflektiert werden müssten. Die kalte Rationalität WEBERs und MERTONs bedürfe dringend der Korrektur durch eine zeitgemäße Wissenschaftsethik, die die Wissenschaft wieder den Grundsätzen sittlichen, guten, gerechten Handelns überantworte. Forschung dürfe nicht länger Selbstzweck, sondern müsse Mittel für ein menschenwürdiges Dasein sein. Über die Reichweite der sozialen Mit-Verantwortung der Wissenschaft besteht jedoch Uneinigkeit.

3 Ethik der Anwendung

Häufigstes Argument für die Begrenzung der moralischen Verantwortung auf die angewandte Wissenschaft ist, Wissen selbst sei wertneutral und nur seine Anwendung ethisch-sittlich von Belang. Für die Grundlagenforschung sei die uneingeschränkte Freiheit der Wahrheitssuche unabdingbar; schließlich könne niemand mit Sicherheit vorhersehen, wie nützlich oder schädlich sich ihre Entdeckungen einmal erweisen werden (vgl. MARKL 1989, S. 45 f.). Erst die technisch-praktische Verwertung der Erkenntnisse reiner Wissenschaft bedürfe der moralischen Rechtfertigung. Erst hier scheide sich Wissen in konstruktives oder destruktives Wissen für die Menschheit. Von anwendenden Forschern müsse daher verlangt werden, dass sie die Negativfolgen ihres Tuns mitbedenken. Qua Fachkompetenz seien sie mitverantwortlich für die Richtung, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt nimmt. Im Zeitalter der Wissenschaft könne sich diese nicht auf die zunehmend obsoleter gewordene Rollenneutralität der Experten zurückziehen, vielmehr habe der Sachverstand im Verbund mit den jeweils beteiligten Entscheidungsträgern aus Politik und öffentlicher Kultur partiell Mitverantwortung zu tragen (vgl. LENK 1984, S. 100 f.).

4 Ethik der Wissenschaft

Radikale Anhänger wertbewusster Wissenschaft kritisieren, die Verantwortung der Wissenschaft beginne nicht erst bei den Resultaten der Forschung, sondern setze bereits mit der Fragestellung ein. Der Grundlagenforscher produziere fortwährend Möglichkeiten potentieller Anwendung, für die er die Verantwortung zu übernehmen habe. Rein theoriegeleitete Erkenntnisarbeit basiere nicht weniger auf zu verantwortenden Handlungsketten als die zweckorientierte Arbeit anwendender Forscher und Techniker (vgl. MEYER-ABICH 1988, S. 138-141). Es gelte daher, die ethische Bedeutsamkeit allen Wissens zu erkennen, womit sich der moralische Freiraum der Grundlagenforschung von selbst verbiete. Jedes neue Wissen beinhalte auch neue Verpflichtungen. Folglich müssten moralische Implikationen auch in jeder Phase der Forschungsarbeit vorausgesetzt werden, ohne dass ethische Prinzipien die Freiheit der Wissenschaft unverhältnismäßig einschränken dürften. Anzustreben sei deshalb ein

< Original S. 72 >

verantwortungsbewusster Mittelweg, der die ethisch vertretbare Freiheit der Wahrheitssuche garantiere (vgl. LENK 1985, S. 109).

5 Zur derzeitigen Diskussion in der Sportwissenschaft

Betrachten wir die berufsethischen Prinzipien für Sportwissenschaftler von NITSCH/WILLIMCZIK anhand dieser idealtypischen Positionen zur Verantwortung der Wissenschaft, dann lassen sich in deren Prinzipien unschwer die technischen Normen von MERTONs Wissenschaftsethos nachweisen. Im wesentlichen verkürzen sie damit die Verantwortung der Sportwissenschaft auf die wissenschaftsimmanente Dimension zur Erlangung bestmöglicher objektiver Erkenntnisse. Nur in der „Präambel“ weisen sie darauf hin, dass die Sportwissenschaft auch „eine besondere Verantwortung für die Wahrung der Würde und Selbstbestimmung des Menschen und für die Förderung der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung“ trage; dass sie „die Verantwortung für alle voraussehbaren Folgen ihrer Forschung“ zu übernehmen habe und dass die sportwissenschaftliche Tätigkeit „einen hohen ethischen Anspruch im Hinblick auf die Reflexion und Gestaltung des eigenen Tuns“ beinhalte (1990, S. 319).

Diese Verkürzung der eigentlichen wissenschaftsethischen Dimension zu einleitenden Randbemerkungen bei NITSCH/WILLIMCZIK veranlasste GERSTMEYER (1991), die Defizite dieses Konzepts zu kritisieren. Über ihre berufsimmanenten Verpflichtungen hinaus erwachse der Sportwissenschaft im Vollzug ihrer Praxis eine besondere „Obhutspflicht“ für den humanen Eigenwert des Sports. Aufgabe und Pflicht der Sportwissenschaft sei es, das Wesen des Sports als leibzentriertes personales Tun gegen die mannigfachen Fremdeinwirkungen zu verteidigen und zu bewahren.

ALTENBERGER (1991, S. 307) schließt sich dem an, wenn er fordert, „dass die Legitimation der sportwissenschaftlichen Arbeit verstärkt im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und weltpolitischen Fragen und Problemen gesehen werden muss“. Bereits „durch Fragestellung und Problemperspektive“ müsse den Rahmenbedingungen für einen humanen Sport verstärkt Nachdruck verliehen werden.

Ähnlich beklagt BECKERS normative Defizite im derzeitigen Selbstverständnis der Sportpädagogik. Als anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin sei für die Sportpädagogik moralische Verantwortung unverzichtbar, möchte sie verhindern, dass sie den „Gefahren eines inhumanen Dogmatismus“ unterliege (1990, S. 45). Und MEINBERG (1990, S. 121) fügt dem hinzu, die Normendiskussion habe im Kontext der Grundlagenforschung die „Legitimation der Legitimation“ sportpädagogischen Handelns zu erbringen.

6 Thesen zur Verantwortung der Sportwissenschaft

Auch in der Sportwissenschaft lässt sich somit ein heterogener Bezug zur Verantwortungsproblematik nachweisen. Die Sein-Sollen-Problematik ist zwar andiskutiert, eine allgemeine Lösung steht jedoch noch aus. Auffallend hierbei ist, dass die Positionen des „Wertfreiheitspostulats“, der „Ethik der Anwendung“ sowie der „Ethik von Grundlagen- und angewandter Forschung“ häufig ineinander verfließen – mit jeweils spezifischen Gewichtungen. Dennoch ist ein gewisser Trend zum verantworteten Wissenschaftsparadigma unverkennbar. Die Frage, ob Sportwissenschaft wirklich alles tun darf, wozu sie fähig ist, wird zunehmend kritisch beantwortet. Insbesondere für sportwissenschaftliche Anwendungsprobleme (Doping usw.) wird ein ethischer Gestaltsprung für unerlässlich gehalten. Alles in allem steht die Sportwissenschaft jedoch erst am Anfang eines langwierigen und diffizilen Dialogs um das Für und Wider der

< Original S. 73 >

Wissenschaftsethik (vgl. WILLIMCZIK 1989, S. 22). Im Sinne der Herausgeber der „Sportwissenschaft“ sind die nachfolgenden Festlegungen daher als kritisch zu hinterfragende Thesen zu verstehen, deren „Vorläufigkeit“ im Prozess der allmählichen sportwissenschaftlichen Konsensbildung unterstrichen wird:

(1) Wertfreie und verantwortete Sportwissenschaft bedingen einander zur Vermeidung der je spezifischen Nachteile, die beiden Wissenschaftsparadigmen anhaften. Das Wertfreiheitspostulat verhindert am ehesten die vorschnelle Moralisierung der Wahrheitssuche durch übertriebene Sollensforderungen. Hingegen sorgt das Verantwortungsprinzip am ehesten dafür, dass sich die Sportwissenschaft nicht in lebensfernen Abstraktionen – fern jeglicher humaner Relevanzüberlegungen – verliert. Grundlagenforschung braucht interne Wertfreiheit, angewandte Forschung ethische Reflexionen so viel wie möglich und nötig, ohne dass sich der Balanceakt von Freiheit und Verantwortung der Sportwissenschaft in seinen Grenzwerten auflösen darf. Nur wertfreies oder nur wertbewusstes Wissenschaftsverständnis schaden mehr, als dass sie nutzen.

(2) Traditionelle, anthropozentrische Ethik-Konzepte bedürfen mit JONAS (1979) der Ergänzung durch eine Natur-Ethik und eine Ethik der Verantwortung für die Nachwelt. Auch die Verantwortung der Sportwissenschaft darf sich nicht nur auf den Menschen erstrecken, sondern muss die nicht-menschliche Kreatur (Tiere), generell die Erhaltung und Pflege der Natur (Ökosysteme) einschließen; und sie darf sich nicht nur auf die Gegenwart beziehen, sondern muss die Fern-Verantwortung für kommende Generationen mitberücksichtigen.

(3) Verantwortung muss jeder einzelne Sportwissenschaftler als auch die Sportwissenschaft als Institution tragen. Individuelle Verantwortung ist generell nicht aufgebbar, nicht teilbar, nicht delegierbar. Andererseits entbindet kollektive Verantwortung den einzelnen nicht von seiner moralischen Mitverantwortung. Gemäß der Stellung im Handlungs- und Machtgefüge einer Gruppe oder Institution hat jeder Einzelne die Gesamtverantwortung anteilig mitzutragen, ohne dass sich niemand mehr verantwortlich fühlt (vgl. LENK 1989, S. 87-89).

(4) Hippokratischer Eid für Wissenschaftler sowie Ethik-Kommissionen können zur Sensibilisierung moralischer Grundtugenden in der Sportwissenschaft beitragen. Beide Maßnahmen sind in der Literatur jedoch umstritten. Wichtiger dürfte die Schulung moralischen Bewusstseins sein, an der es derzeit noch fast völlig mangelt. Moralisches Denken kann und muss geübt werden und darf sich nicht nur in lebensfernen Postulaten erschöpfen (vgl. LENK 1986, S. 140).

Literatur

ALTENBERGER, H.: Prinzipien einer Berufsethik für Sportwissenschaftler. Anmerkungen zum Beitrag von NITSCH, J. R./WILLIMCYK, K. In: Sportwissenschaft 21 (1991), S. 307-309.

BECKERS, E.: Pädagogik zwischen Wissenschaft und Verantwortung – zur Notwendigkeit einer normativen Sportpädagogik. In: SCHERLER, Kh. (Hrsg.): Normative Sportpädagogik. Clausthal-Zellerfeld 1990, S. 30-50.

GERSTMEYER, Th.: Ethik für Sportwissenschaftler oder Ethik der Sportwissenschaft? Ergänzende Kritik des Entwurfs von NITSCH, J. R./WILLIMCZIK, K. In: Sportwissenschaft 21 (1991), S. 189-195.

JONAS, H.: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation. Frankfurt/M. 1979.

LENK, H.: Zum Verantwortungsproblem in Wissenschaft und Technik. In: STRÖKER, E. (Hrsg.): Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. Bd. 1. München 1984, S. 87-116.

LENK, H.: Mitverantwortung ist anteilig zu tragen – auch in der Wissenschaft. In: BAUMGARTNER, H. M./STAUDINGER, H. (Hrsg.): Entmoralisierung der Wissenschaften? Physik und Chemie. Bd. 2. München 1985, S. 102-109.

LENK, H.: Zur Frage der Verantwortung des Wissenschaftlers. In: BRAUN, E. (Hrsg.): Wissenschaft und Ethik. Bern 1986, S. 117-143.

LENK, H.: Verantwortung der Ingenieure und Experten. In: MEINEL, E./ENGLERT, E./KLIEMT, H. (Hrsg.): Das Unbehagen gegenüber den Wissenschaften. Heidelberg 1989, S. 83-110.

MARKL, H.: Wissenschaft: Zur Rede gestellt. Über die Verantwortung der Forschung. München 1989.

MEINBERG, E.: Grundsätzliche Überlegungen zur sportpädagogischen Normenforschung. In: SCHERLER, Kh. (Hrsg.): Normative Sportpädagogik. Clausthal-Zellerfeld 1990, S. 111-125.

MERTON, R. K.: Die normative Struktur der Wissenschaft. In: MERTON, R. K.: Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie. Frankurt/M. 1985, S. 86-99.

MEYER-ABICH, K. M.: Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung. München 1988.

NITSCH, J. R./WILLIMCZIK, K.: Prinzipien einer Berufsethik für Sportwissenschaftler. In: Sportwissenschaft 20 (1990), S. 317-323.

WEBER, M.: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: WEBER, M.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1985, S. 489-540.

WILLIMCZIK, K.: (Irr-)Wege einer Ethik der Sportwissenschaft. In: Spectrum der Sportwissenschaften 1 (1989), S. 5-25.