Aufsatz*


Leichtathletischer Staffelwechsel

Leichtathletik und Postmoderne

Hägele, W.: Die Leichtathletik in der Postmoderne. In: Sportpraxis 42 (2001), 6, S. 33-39. 

Schlüsselwörter

Deutscher Leichtathletikverband; Moderne; Postmoderne; sozialer Wandel; Sportentwicklung; Enttraditionalisierung; Pluralisierung; Erlebnissport; Leistung; Wettkampf; Spiel; Spielleichtathletik; Sport-Hopper; Bastel-Individualität; Selbstbestimmung

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Seit den 1970er Jahren erfolgt die allmähliche Ablösung der traditionellen Industriegesellschaft (“Moderne”) durch die postmoderne Informationsgesellschaft (“Postmoderne”). Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre wirkte sich der soziale Umbruch im Handlungsfeld des Sports merklich aus. Auch der Deutsche Leichtathletikverband konnte sich dieser Entwicklung nicht entziehen. Seit Jahren findet in seinen Reihen eine Grundsatzdiskussion zwischen Verteidigern eines eher traditionell-leistungsorientierten Sportverständnisses und Befürwortern eines eher progressiv-erlebnisorientierten Sports statt, die bis heute anhält. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung wird zunächst der derzeitige Forschungsstand zur postmodernen Informationsgesellschaft aufgezeigt (1.). Danach werden die Anpassungsprozesse, aber auch Defizite und Problemlagen in der Leichtathletik thematisiert, die die postmodernen Veränderungen mit sich gebracht haben (2.). Schließlich wird ein Szenario einer wünschenswerten Zukunft für die Leichtathletik skizziert (3.), dem die Prämisse zugrunde liegt, dass trotz aller Schicksalhaftigkeit auch die Zukunft – zumindest bedingt – gestaltet werden kann und nicht sich selbst überlassen werden darf.

1. Die Strukturprinzipien der postmodernen Informationsgesellschaft

Gemeinsamer Bezugspunkt aller Theorieansätze zur Postmoderne ist der Tatbestand, dass mit der elektronischen Revolution durch Mikroprozessoren und Computer in den 1970er Jahren ein gigantischer sozialer Umwälzungsprozess eingeleitet wurde, der mittlerweile zur Herausbildung der postmodernen Informationsgesellschaft geführt hat (BELL 1988). Überzeugte Postmodernisten bejahen den gesellschaftlichen Gewinn, den diese epochale technologische Basisinnovation ausgelöst hat. Unverkennbar bringt die hereinbrechende neue Moderne jedoch auch eine Radikalisierung gesellschaftlicher Risiken und Gefahren mit sich, die von vielen Gegnern ins Zentrum ihrer Kritik gerückt wird, während die Wurzeln des Übels häufig in der alten Moderne verortet werden.

Aus der Vielzahl der Merkmale werden nunmehr jene vier Strukturprinzipien erläutert, die die postmoderne Informationsgesellschaft am treffendsten kennzeichnen.

a) Informationstechnologie, Massenmedien und Hyperrealität

Die zügige Etablierung der Informationstechnologie bewirkte nicht nur, dass mittlerweile über die Hälfte aller Berufstätigen im Dienstleistungssektor beschäftigt sind, sondern führte insbesondere zur Aufwertung jener höher qualifizierten Dienstleistungen in Handel, Finanzen, Technik und Wissenschaft, die grundlegende Computerkenntnisse und fundiertes theoretisches Wissen voraussetzen. Ausschlaggebend für die weitere Zukunft der Informationsgesellschaft ist zweifellos, inwieweit die enorme Wissenskumulation zur Schaffung neuer, noch effektiverer Technologien im Produktionssektor genutzt wird. Andererseits ist durch die Überschwemmung des Marktes mit banaler Unterhaltungssoftware eine gegenteilige Entwicklung hin zur Wissensverflachung der Bevölkerung nie ganz auszuschließen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass durch die allgegenwärtige Faszination der audiovisuellen Bilder das kritische Urteilsvermögen der Medienkonsumenten permanent durch unterschwellig wirkende Suggestionen der Freizeit- und Kulturindustrie unterlaufen wird. Noch radikaler beklagen postmoderne Kulturpessimisten die ausufernde Visualisierung und Medialisierung der Welt, die bisweilen den Eindruck erwecke, als sei die fiktive Zeichen- und Bilderwelt des Cyberspace realer als die wirkliche Wirklichkeit der materiellen Dingwelt (BAUDRILLARD 1982).

b) Globalisierung, Pluralität und Ambivalenzen

Territorial- und Nationalstaat als herausragende Kennzeichen der traditionellen Industriegesellschaft werden in der postmodernen Informationsgesellschaft zunehmend durch die globale Enträumlichung des Sozialen relativiert. Handy, E-Mail und Internet haben maßgeblich zur Entkoppelung von sozialer und geographischer Nähe beigetragen. Viele “global players” führen mittlerweile ein weltweites Nomadenleben und sind in internationalen Unternehmen beschäftigt, die sich nationalstaatlicher Kontrolle weitgehend entziehen. Entgegen ursprünglicher Befürchtungen erbrachte die Globalisierung der Welt allerdings keine Vereinheitlichung der kulturellen Unterschiede, sondern leitete jene unaufhebbare Interdependenz und Gleichzeitigkeit von globalen, regionalen und lokalen Kulturelementen ein, die kennzeichnend ist für die postmoderne Informationsgesellschaft in ihrer bunten Vielfalt und heterogenen Pluralität (BECK 1998).

Wurden Pluralität und Dissens in der traditionellen Moderne noch unterschwellig als Bedrohung von Einheit und Eindeutigkeit deklariert, geraten in der Postmoderne zunehmend Totalitäts- und Absolutheitsansprüche jeglicher Art unter Legitimationszwang. Ob und inwieweit sich Einheit und Ganzheitlichkeit des Lebens, der Welt und des Denkens überhaupt noch herstellen lassen, ist hierbei die heftigst umstrittene philosophische Fragenstellung. Viele Kritiker befürchten ein Abdriften der Postmoderne in anarchische Beliebigkeit, während ihre Verteidiger ein Mehr an Toleranz anführen. Langfristig dürfte es jedoch der traditionellen Moderne zunehmend schwerer fallen,

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sich der Konkurrenz der postmodernen Moderne erfolgreich zu erwehren.

c) Ästhetisierung, Körperaufwertung und neue Romantik

Als Reaktion auf die einseitige Rationalisierung des Lebens in der traditionellen Moderne sowie begünstigt durch wachsenden Wohlstand, vermehrte Freizeit und erhöhte Bildung von Zwei-Drittel der Bevölkerung, kam es seit den 1970er Jahren zu einer stetigen Aufwertung von Körper, Sinne, Erlebnis und Imagination in der Postmoderne. Nicht nur Verstand und Logik, sondern auch Gefühl und Intuition sollten verstärkt Geltung erlangen.

Entgegen der diskriminierenden Kritik ihrer Widersacher basiert die ästhetische Revision der Postmoderne jedoch nicht auf einer vordergründigen Renaissance von Irrationalismus und Narzissmus, sondern zielt auf die maßvolle Verbindung von wahrnehmbarem Sinnlichen und übersinnlichem Kognitiven (WELSCH 1990). Nicht ein erlebnissüchtiger Körperkult ist das angestrebte Ziel, sondern innere Kultivierung und Selbstfindung über die atemlose Gegenwart schnelllebiger Events hinaus. Auf diese Weise distanziert sich die gehaltvolle Postmoderne von der Banalisierung der Gefühle durch die konsumgesteuerte Erlebnisindustrie und setzt dem Erschlaffen der Kultur in einer alles bestimmenden Spaß- und Gefühlsorgie das progressive Programm einer reflexiven Moderne entgegen, das Muße, Unterhaltung und Spiel in ausgleichender Funktion zur kulturellen Unverzichtbarkeit von Leistung, Bedürfnisaufschub und Abstraktion legitimiert.

d) Enttraditionalisierung, Reflexive Sozialität und “Bastel”-Individualität

Dem Menschenbild der postmodernen Informationsgesellschaft entsprechen nicht länger gehorsamer Untertan und disziplinierter Akkordarbeiter, sondern weltgewandter Globetrotter und innovativer Internet-Anwender. Die abgeschwächte Bedeutung industriegesellschaftlicher Sozialformen mit Enttraditionalisierung von Familie, Verwandtschaft, Geschlecht und sozialer Klasse war die logische Konsequenz dieser Entwicklung. Viele Kritiker befürchteten daher eine systemgefährdende Entsolidarisierung der Gesellschaft mit bedrohlichem Zerfall kollektiver Werte. Zutreffender dürfte sein, dass die sozialen Institutionen nicht länger schicksalhaft vorgegeben sind, sondern verstärkt dem Rechtfertigungsdruck der Individuen unterliegen.

Die reflexive Sozialität der Postmoderne entfremdet somit das Individuum keineswegs seiner sozialen Herkunft, vielmehr muss es sein Leben mehr denn je eigenverantwortlich gestalten. In der “Bastelexistenz” kommt diese Zunahme an Entscheidungsfreiheit, aber auch Entscheidungsnotwendigkeit am angemessensten zum Ausdruck. Einem Mehr an Freiheit, Selbstverwirklichung und Autonomie steht indes auch ein Mehr an Orientierungsproblemen, Verunsicherungen und Desintegration gegenüber, weshalb restaurative Gegenbewegungen, angetrieben von fundamentalistischen Extremisten, nie ganz auszuschließen sind.

2. Die Leichtathletik zwischen Moderne und Postmoderne

Die Leichtathletik als Subsystem von Sport und Gesellschaft konnte sich dem aufgezeigten postmodernen Strukturwandel nicht entziehen. Anfangs eher auf Distanz den sozialen Neuerungen gegenüber, später zum Handeln mehr getrieben denn innovativ-zukunftsoffen reagierend, haben 30 Jahre Diskussion um eine zeitgemäße Leichtathletik dennoch Spuren hinterlassen. Bei welcher Wertekonstellation sich die Leichtathletik künftig jedoch einpendeln wird, ist im gegenwärtigen Übergangsstadium und angesichts der anhaltenden Gleichzeitigkeit von modern-traditionellen und postmodern-zukünftigen Strukturelementen allenfalls ansatzweise erkennbar. Die Probleme, Hoffnungen und Ängste, die durch diese Ungleichgewichtslage erzeugt werden, gilt es nunmehr zu thematisieren.

a) Leistung, Wettkampf und Hypertrophie

Die Leichtathletik – erklärtes Zentrum und Königsdisziplin der Olympischen Spiele – ist traditionell auf Leistung, Wettkampf, Rekord und Askese ausgerichtet. Der postmoderne Schwenk zu mehr Sinnlichkeit, Erlebnisorientierung und Langsamkeit der Lebensbezüge musste den Verband zwangsläufig in eine existentielle Krise führen. Drohender Mitgliederschwund und anhaltende Rekrutierungsprobleme im Jugendbereich sind beredte Zeugen dieser Entwicklung. Doch weder schließen sich Lust und Leistung gegenseitig aus, noch kommt die Informationsgesellschaft künftig ohne Leistungsbereitschaft, Bedürfnisaufschub, Mühen und Schweiß aus. Die Verteidigung des Leistungs- und Wettkampfsports durch den DLV als bestimmende Sinnmitte und Legitimationsbasis seines Selbstverständnisses (DIGEL 1994) ist daher kein antiquiertes Relikt der untergehenden Moderne, sondern verkörpert eine bedeutsame Fassette einer zukunftsweisenden Postmoderne, die ungeachtet aller Fortschrittsrisiken letzten Endes unverzichtbar und überlebensnotwendig ist.

Trotz seines programmatischen Bekenntnisses zum Leistungs- und Wettkampfsport für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen ist der Deutsche Leichtathletikverband dennoch einseitig auf den Hochleistungssport fixiert. Durch die übermächtige Medienpräsenz der großen Leichtathletik hat sich zudem gezeigt, dass die kleine Leichtathletik des Jedermann tendenziell zum bloßen Abbild und zur schlechten Kopie der Show- und Glitzerwelt der Fernseh-

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und Unterhaltungsindustrie zu verkommen droht. Dies erklärt auch, warum die Leichtathletik heute viel weniger mit den Attributen subjektbestimmter Eigenleistung, Persönlichkeitsbildung und Fairness assoziiert wird, als vielmehr mit entgrenztem Rekord- und Erfolgsstreben, Doping, Kommerz und überhand nehmender Fremdbestimmung. Inwieweit die Korrektur dieses Negativimages künftig gelingen wird, dürfte für das Überleben der Leichtathletik viel wichtiger sein, als das künstlich erzeugte Feindbild eines leistungsfeindlichen Erlebnissports, in dem Spaß und Anstrengung in der Regel eine weit engere Symbiose eingehen, als die poppige Lifestyle-Szene postmoderner Jugendlicher dies vermuten lässt. Zu den reflexiven Stoppmechanismen in der Leichtathletik zählen derzeit die Maßnahmen zur Doping-Bekämpfung, die periodisch wiederkehrende Forderung nach Relativierung des Medaillen- und Rekordprinzips zugunsten des direkten Leistungsvergleichs im Wettkampfgeschehen sowie die erfolgreiche Re-Akzentuierung des Spielerischen in der Kinderleichtathletik. Inwieweit sich eine saubere, humane Leichtathletik international jedoch tatsächlich realisieren lässt, ist derzeit höchst ungewiss. Die Nähe zu moralisch bedenklichen Gladiatorenkämpfen scheint weit größer zu sein als eine vernunftbestimmte Mäßigung des Selbstzerstörungsakts.

b) Postmoderne Vielfalt und traditionelles Sportverständnis

Pluralität als zentraler Schlüsselbegriff der Postmoderne machte sich im Umfeld der Leichtathletik als wachsende Konkurrenz durch neue Sportarten bemerkbar, im Binnenbereich hingegen als verhaltene Kritik an der einseitigen Leistungs- und Wettkampfausrichtung. Insbesondere in der Spielleichtathletik (KATZENBOGNER/ MEDLER 1993; 1995) wurde zunächst einer Bewegungsvielfalt das Wort geredet, die tendenziell zur Beliebigkeit neigte, anderseits eine kreative Neuschöpfung vieler Wettkampfformen auslöste. Grundsätzlich wurde jedoch die zentrale Bedeutung des Wettkampfs nicht beschnitten, vielmehr ergänzt durch weitere Sinnelemente und Motive, wie dies KURZ (1986) ursprünglich forderte und mittlerweile von FREY (1997) und anderen modifiziert vorgetragen wurde. Diese Akzentuierung des Wettkampfsports erschwerte indes die unvoreingenommene Beurteilung und praktische Umsetzung der alternativen Sinnbereiche erheblich. Nur zu leicht läuft das Differente und Heterogene hierbei Gefahr, als störende Restkategorie gleichgeschaltet zu werden, ohne dass deren Vor- und Nachteile angemessen ausgelotet worden wären. Der Gewinn bringende Dialog und das Lernen vom Widersprüchlichen als unumstößliche Forderung postmoderner Theoretiker wird auf diese Weise starken Irritationen ausgesetzt, und dies um so mehr, je stärker Traditionalisten in der Leichtathletik ihre Welt gefährdet sehen.

Andererseits wird der drohenden Beliebigkeit in der Leichtathletik in jüngster Zeit vermehrt mit thematischen Begrenzungen begegnet. Als bestes Beispiel hierfür kann die koordinative und fähigkeitszentrierte Kinderleichtathletik angeführt werden (EBERLE 1997); nicht alles darf und soll Leichtathletik sein. Zudem wird in der Kinderleichtathletik der Lern- und Übungsaspekt wieder verstärkt bejaht. Dennoch befürchten viele Anhänger der traditionellen Leichtathletik, ihre funktionale Differenzierung und der quantitative Wachstumsschub in den letzten Jahrzehnten gefährde mittlerweile ihre Identität und ihr Selbstverständnis. Ihre tragenden Grundsätze drohten verloren zu gehen; wertvolle Sinnverluste stünden auf dem Spiel. Eine Konsolidierung ihrer Strukturen sei daher wichtiger als ein ausuferndes Wachstum. Nicht jedem Trend dürfe blindlings gefolgt werden. Vor allem den strukturellen Anpassungen an die kommerziellen Sportanbieter müsse Vorschub geleistet werden. Doch solange es dem Leichtathletikverband gelingt, die postmoderne Heterogenität an Sportmotiven, Sportgruppen und zugeschriebenen Funktionen durch ein Minimum an Gemeinsamkeiten zusammenzuhalten, muss die postmoderne Widersprüchlichkeit nicht zwingend selbstzerstörerische Folgen zeitigen. Allen Anfeindungen, Beeinträchtigungen und Relativierungen zum Trotz sollten daher die unterschiedlichsten Varianten und Möglichkeiten des Laufens, Werfens und Springens in der Leichtathletik prinzipiell nur daran gemessen werden, inwieweit sie a) den allgemeinsten leichtathletischen Motorik- und Konstitutionsprinzipien gerecht werden und b) nicht gegen den von allen Sportverbänden getragenen Minimalkonsens des Deutschen Sportbundes mit der Unversehrtheit und Würde der Person der Athleten sowie der Moral des Fair play eklatant verstoßen.

c) Spiel, Erlebnis und Körperkult

Die Ästhetisierung und Emotionalisierung von Gesellschaft und Sport seit den 1970er Jahren beschränkte sich in der Leichtathletik weitestgehend auf den Bereich der Kinder- und Schulleichtathletik (FREY 1990; u.a.). Die Kritik wandte sich insbesondere gegen deren allzu starre Reglementierung und Ergebnisausrichtung. Monotonie, Einfalt und Erstarrung, aber auch die einseitige Ausrichtung auf das Talent und die Erwachsenenleichtathletik hätten nicht nur zum Niedergang der Schulleichtathletik geführt, sondern generell die Kinder- und Jugendleichtathletik ins Hintertreffen gebracht. Die Trend- und Funsportarten kämen heute dem Erlebnis- und Lebensgefühl der jüngeren Generation weitaus näher als die allzu traditionsbeladenen leichtathletischen Bewegungsformen.

Als Reaktion auf diese Kritik etablierte sich seit den 1990er Jahren eine Kinderleichtathletik, die das Spielerische, Leichte, Sinnliche, Kindgemäße und Personbezogene wieder stärker akzentuierte. Körpererlebnis und nicht Körperdrill

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hieß die Parole. Als weiteres Beispiel für die gelungene Ästhetisierung der Leichtathletik kann die quirlige Lauf- und Joggingszene genannt werden, deren Revitalisierungspotential jedoch größtenteils von verbandsexternen Innovationskräften herrührt. Vereinzelt diskutiert wurde ferner, dass das heutige Medienzeitalter eine Reform der Wettkampfkultur erzwinge, die eine attraktivere, kurzweiligere Präsentation der Leistungen des Athleten dringend erfordere. Alles in allem ist die Leichtathletik jedoch einem verhaltenen Konservatismus verpflichtet, was begründen mag, warum postmoderne Trends in der Vergangenheit eher geringschätzig belächelt oder pauschal verurteilt denn unvoreingenommen auf ihren künftigen Wertgehalt hinterfragt wurden.

Zurückzuführen ist diese kritische Einschätzung postmoderner Veränderungen in der Leichtathletik auf die tendenzielle Stigmatisierung des kommerziell geprägten Freizeitsports als verfehlt und minderwertig. Letztlich bedrohe dessen allzu hedonistische, leistungsfeindliche und konsumgesteuerte Ausrichtung das wertvolle Bildungsgut der klassischen Leistungsleichtathletik in seinen Grundfesten. Doch realiter fungierte der postmoderne Freizeitsport in vielen seiner Facetten eher als der eigentliche Auslöser der spielerischen Renaissance des Sports. Keineswegs leistungsfeindlich eingestellt, allenfalls gegen langfristigen, zwanghaften Leistungsdrill gewendet, ist subjektbestimmte Leistung im Freizeitsport typischerweise vernetzt mit kurzfristigem Bedürfnisaufschub im selbstzentrierten, erlebnisreichen Tun. Möchte der Deutsche Leichtathletikverband daher das Schicksal vieler Turnvereine ausgangs des 19. Jahrhunderts vermeiden, die trotz der um sich greifenden Sportbewegung beharrlich an einem antiquierten Bewegungsrepertoire festhielten, sollte er seine Grundposition gründlich überdenken. Dass andererseits die spielbetonten Ästhetisierungsversuche im Sport jederzeit zum oberflächlichen Körperkult und zum Ego-Trip eines enthemmten Gefühlsrausches ausarten können, ist ebenso menschlich, wie die inhumanen Verdinglichungstendenzen im gegenwärtigen Hochleistungssport unumstößliches Fakt sind. Das progressive Potential der Postmoderne darf deshalb nicht vorschnell verteufelt werden, vielmehr gilt es, deren negative Verfehlungen und Entgleisungen normativ zu sanktionieren. So besehen ist die postmoderne Rückbesinnung des Sports auf seine ursprünglich ludischen Sinnkriterien eine durchaus begrüßenswerte Entwicklung.

d) Sporthopper, Gesinnungsethik und Re-Organisation

Wie alle sozialen Institutionen geriet auch der Sport in der Postmoderne in den Sog der allmählichen Auflösung überkommener Traditionen. Erwähnt seien nur der prinzipielle Wandel des Großvereins von der Gesinnungsgemeinschaft zum service- und kundenfreundlichen Dienstleistungsbetrieb, die abnehmende Bindungs- und Integrationsbereitschaft der Vereinsmitglieder sowie der Boom informeller Freizeitgemeinschaften auf Kosten traditioneller Sportgruppen (HÄGELE 1997). In merklich erhöhten Fluktuationsraten schlug sich ferner das veränderte Sportverhalten der Jugendlichen nieder, die sich als freiheitsliebende Sporthopper weniger in die Leistungs- und langjährige Verpflichtungsfron einer Sportart einzwängen ließen, als dass sie nach Gutdünken von Sportart zu Sportart sowie von Modetrend zu Modetrend wechselten. All diese Veränderungen hinterließen Spuren auch in der Leichtathletik. Die Folge waren mehr oder weniger zögerliche Versuche der zeitgemäßen Anpassung und Re-Organisation der Verbandsstrukturen, ferner die Zunahme der Neben- und Hauptamtlichkeit auf Kosten des Ehrenamtes sowie Bemühungen, die Mitbestimmung der Athleten auf allen Verbandsebenen zu forcieren.

Das starke Beharrungsvermögen traditioneller Institutionen zeigte sich jedoch auch im Sport. Wiederholt kritisierte DIGEL (1997) am deutschen Verbandswesen die unzureichende Führungs- und Sachkompetenz, den Hang zum reflexionsarmen Dogmatismus, zur Vetternwirtschaft und zur Ämterhäufung weniger Spitzenfunktionäre sowie die tendenzielle Schmähung “ketzerischer” Erneuerer. Am verhängnisvollsten für die künftige Entwicklung der Leichtathletik könnte sich jedoch die allzu forsche Ausgrenzung des postmodernen Freizeitsports als Dekadenzerscheinung der Erlebnisgesellschaft auswirken. Zwar wurde wiederholt die Gleichrangigkeit von Breiten- und Leistungssport beteuert, doch wurde es versäumt, die erforderlichen breitensportlichen Strukturen aufzubauen. Die innovativen Bemühungen blieben weitestgehend auf die Kinderleichtathletik beschränkt. Vergleichbare Überlegungen für den Erwachsenenbereich fehlen fast völlig. Hier könnte die Leichtathletik von den kommerziellen Sportanbietern lernen, wie – konträr zum eckigen, harten und entbehrungsreichen Trainings- und Wettkampfbetrieb – in einer Atmosphäre des Weichen, Sanften und Bunten sowie in enger Verzahnung von Leistung, Wetteifer, Geselligkeit, Abwechslung, Abenteuer und Herausforderung eine leichtathletische Breitensportszene entstehen könnte, die zukunftsweisend ist, ohne gleich befürchten zu müssen, ihr Bekenntnis zur Selbstorganisation und zur Gemeinnützigkeit nehme deshalb Schaden. Wie die Spiel- und Wandervogelbewegung zu Beginn des letzten Jahrhunderts gezeigt hat, sind die Sozialnischen der Verlangsamung und der Gegenzeit in zukunftsorientierten, stark beschleunigten Gesellschaften nicht kontraproduktive, sondern funktionale Erfordernisse der Regeneration und der Reintegration der Menschen angesichts überhand nehmender, Stress erzeugender Hektik und klammheimlicher sozialer Isolation, wie dies in noch radikalerer Form auch für die Informationsgesellschaft der Gegenwart zutrifft.

3. Die Zukunft der Leichtathletik

Vor dem Hintergrund postmoderner Hoffnungen und Ängste gilt es abschließend die Frage zu klären, welche Zukunft die Leichtathletik zu erwarten hat. Optimisten der Postmoderne prophezeien ein goldenes Zeitalter mit dialogischer Demokratie, reflexiver Sozialität und aktiver Individualität. Pessimisten hingegen befürchten einen fortschreitenden Werteverfall mit konsumtiver Erlebnishysterie, entleerter Solidarität und riskanter Identitätsfindung. Die Zukunft ist indes stets offen, und vorausschauende Prognosen haben sich zumeist als unzuverlässig erwiesen. Moderne Zukunftsforschung beansprucht daher nur noch, mögliche Entwicklungspfade – ohne prophetische Heils- oder Hiobserwartungen – auf der Grundlage eines soliden Datenmaterials aufzuzeigen. Als wichtigstes Arbeitsinstrumentarium hierzu dienen Modellkonstruktionen, die für mögliche Strukturabläufe und sich verdich-

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tende Zukunftsentwürfe sensibilisieren sollen. Das nachfolgende Szenario einer Leichtathletik für das 21. Jahrhundert beansprucht daher nicht, der Weisheit letzter Schluss zu sein, vielmehr werden gegenwärtige Entwicklungstrends und normative Richtungs- und Zielvorgaben zu Thesen für eine wünschenswerte Zukunft der Leichtathletik extrapoliert, um deren Verwirklichung gerungen werden muss:

I. Der Deutsche Leichtathletikverband ist kein autonomes Sozialgebilde, sondern wird maßgeblich durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt. Zwar hat die postmoderne Informationsgesellschaft mittlerweile deutliche Konturen angenommen, doch können wirtschaftliche Krisen und politische Notlagen deren weiteren Verlauf grundlegend verändern. So kann die derzeitige Erlebnisethik der Wohlstandsgesellschaft bei anhaltender Arbeitslosigkeit, Rezession und sich verschärfender sozialer Ungleichheit jederzeit umkippen, und die Pflichtethik der Knappheitsgesellschaft erlangt wieder die Oberhand. Als unmittelbare Folge der informationstechnischen Revolution dürften indes die gegenwärtigen Tendenzen zu Globalisierung, Pluralisierung und Individualisierung nachhaltigste soziale Auswirkungen zeitigen. Träger und Gewinner der Postmoderne sind zweifellos die Jüngeren und Gebildeten, während die Älteren und Ungebildeten überwiegend zu ihren Verlierern zählen. Andererseits hat der Ablösungsprozess der traditionellen Moderne durch die Postmoderne erst begonnen, so dass in je spezifischen Gewichtungen und Verdichtungen das bunte Neben-, aber auch Ineinander der Wertskalen von traditioneller Industriegesellschaft und postindustrieller Informationsgesellschaft noch über Jahrzehnte den Alltag der Menschen in Gesellschaft, Sport und Leichtathletik bestimmen wird.

II. Das Selbstverständnis des Deutschen Leichtathletikverbandes wird darüber hinaus durch die Veränderungen tangiert, die sich in seinem sportlichen Umfeld ereignen. Zwangsläufig hatten daher die massenhafte Versportlichung der Gesellschaft und die ästhetisch-sinnliche Entsportlichung des Sports auch unmittelbare Folgen für die Leichtathletik. Für die künftige Gestalt der Leichtathletik wird nicht unerheblich sein, ob und inwieweit die Einheit der Sportvereine und Sportverbände unter dem Dach des DSB erhalten bleibt. Von tragender Bedeutung wird ferner sein, ob und inwieweit sich trotz wachsender Kommerzialisierung, Hauptamtlichkeit und mannigfacher Unmoral die von allen Verbänden getragene Willenserklärung zu Selbstorganisation, Ehrenamt und Gemeinnützigkeit erfolgreich behaupten lässt. Die Frage erübrigt sich damit fast von selbst, ob der Deutsche Leichtathletikverband aktiv gestaltende Sportpolitik betreiben oder sich auf den Status unbescholtener Neutralität zurückziehen sollte: Die Hoffnung auf eine erträgliche Zukunft erfordert ausnahmslos die Mit-Verantwortung aller Beteiligten.

III. Der Deutsche Leichtathletikverband versteht sich als Gralshüter des Leistungs- und Wettkampfsports, als Verteidiger jener Leistungs- und Arbeitstugenden, die heute durch die Erlebnisgesellschaft bedroht zu sein scheinen. Trotz gegenteiliger Beteuerungen bilden jedoch nicht Leistung und Wettkampf, sondern spielerisch-zweckfreies Laufen, Werfen und Springen die tiefste Legitimation der Leichtathletik. Ihr klassischer Tugendkatalog als Königsdisziplin der Olympischen Spiele verkörpert somit nicht “die” Leichtathletik schlechthin, sondern ist lediglich beredter Ausdruck und typisches Beispiel der im 19. Jahrhundert kreierten Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die heute in ihrer einseitigen Ausrichtung unter Rechtfertigungsdruck geraten ist. Der Leistungs- und Hochleistungssport wird damit keineswegs negiert, eher wird dessen Bedeutung in der postmodernen Medienwelt noch zunehmen. Hingegen wird der totalisierenden Verkürzung des Leistensbegriffs auf Erfolg, Sieg und Rekord eine Absage erteilt, die die unspektakuläre, innerlich motivierte Eigenleistung auf unterschiedlichstem Anspruchsniveau hoffnungslos ins Hintertreffen geraten ließ.

Noch schwerwiegendere Folgen scheint die traditionelle Zentrierung der Leichtathletik auf den Wettkampfsport zu zeitigen. Zweifellos wurde dadurch die vorurteilsfreie Öffnung ihrer Strukturen für neue Sinnperspektiven erschwert. Die anhaltende Legitimationskrise der Leichtathletik findet hierin ihre tiefere Begründung. Vertretern der klassischen Leichtathletik fällt es offensichtlich schwer zu akzeptieren, dass leichtathletisches Laufen, Werfen und Springen auch unter der Sinnausrichtung Körper- und Naturerleben, Geselligkeit oder Spiel hinreichend bedeutsam sein können. Dies erklärt die mühselige Diskussion zur Reform der Kinderleichtathletik in den letzten Jahren sowie das einseitige Festhalten am Konkurrenzprinzip im Breitensport der Erwachsenen. Um nicht missverstanden zu werden: Auch unter postmodernen Vorzeichen wird die Bedeutung des Wettkampfs für die Leichtathletik keineswegs geschmälert, wohl aber dessen Übergewicht als alles dominierende und domestizierende Größe, die unter dem Schein lebendiger Vielfalt sich zur agonalen Einfalt verkehrt. Inwieweit es der Leichtathletik gelingen wird, diese Verkürzungen ihrer klassischen Variante maßvoll aufzubrechen, ohne in den Abgesang der pseudoromantischen Leistungs- und Wettkampfverweigerung zu verfallen, wird entscheidend sein für ihre Attraktivität und ihr Überleben in der Postmoderne.

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IV. Der Deutsche Leichtathletikverband wird nicht umhin können, die radikale Pluralität der postmodernen Informationsgesellschaft anzuerkennen. Zukunftsweisend ist daher keine monistische Leichtathletik, sondern eine, die die anspruchsvolle Vielfalt und Mehrdimensionalität ihrer Strukturen bejaht, andererseits ein Abgleiten in Beliebigkeit verhindert. Erhöhte Identitätsarbeit und mehr Toleranz dem Widersprüchlichen gegenüber sind hierzu unerlässlich, aber auch die Fähigkeit des Einzelnen, vorurteilsfrei von einem Handlungsfeld zum anderen überwechseln zu können. Deshalb ist die Öffnung der klassischen Wettkampfleichtathletik für andere Sinndimensionen auch kein Zeichen wachsender Dekadenz und des beginnenden Niedergangs, sondern eine unabdingbare Adaptationsleistung vor dem Hintergrund einschneidender sozialer Umwälzungen. Die Postmoderne ist eine gigantische Herausforderung, der sich auch die Leichtathletik stellen muss.

V. Die ästhetische Aufwertung von Spiel, Erlebnis, Körper und Sinne in der Postmoderne sollte die Leichtathletik nicht länger als Substanz bedrohende Verfallserscheinung der Freizeit- und Kulturindustrie kritisieren, sondern deren prinzipielle Rückbesinnung auf den ursprünglichen, ludisch-intrinsischen Definitionskern des Sports vorbehaltlos bejahen. Logische Konsequenz dieses Perspektivenwechsels müsste die rasche Etablierung einer Breitensport-Leichtathletik sein, die nicht länger die thematische Verengung auf den Wettkampfsport betreibt, sondern die funktionale Entdifferenzierung sowie maßvolle Verkoppelung leichtathletischer Bewegungsaktivitäten mit anderen Sport- und Sinnelementen gutheißt, etwa mit den Sportspielen sowie mit Joggen, Gymnastik und Krafttraining, aber auch mit Erholung, Geselligkeit, Abenteuer und Fitness. Für die praktische Umsetzung dieses Anspruchs könnte der hohe Qualitäts- und Serviceanspruch kommerzieller Fitnesszentren wertvolle Hilfestellung leisten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Leichtathletik ohne diese längst fällige Legalisierung des Breitensports und dessen behutsame Öffnung für entdifferenzierte Strukturelemente im nächsten Jahrzehnt erhebliche, wenn nicht gar bestandsbedrohende Reputations- und Mitgliedereinbußen in Kauf nehmen müssen.

Eingewendet werden kann an dieser Stelle, dass in der Vergangenheit alle neoromantischen Werteschübe über kurz oder lang verebbten oder in gesellschaftliche Nischen zurückgedrängt wurden, während der Hauptstrang zweckrational-instrumenteller Werte in Politik, Wirtschaft und Technik unbeirrt seinen Siegeszug fortsetzte. Dieser Sachverhalt lässt sich für die Spätaufklärung und Romantik zu Zeiten von Guts Muths und Jahn ebenso belegen wie für die Spiel-, Wandervogel- und Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Tatsache ist aber auch, dass mit der umfassenden Medialisierung und Digitalisierung der Informationsgesellschaft mittlerweile ein Abstraktionsgrad erreicht wurde, der die Entsinnlichung und Entkörperlichung der Lebensbezüge auf die Spitze trieb. Trifft indessen zu, dass das biologische Erbgut des Menschen seit der Neolithischen Revolution vor ca. 10 000 Jahren keine wesentliche Veränderung erfahren hat, ist auch der postmoderne Mensch von seinen Genen her noch typischerweise auf Bewegung und körperliches In-der-Welt-Sein prädisponiert – auf Laufen, Werfen und Springen der unterschiedlichsten Art. Um irreparable Schäden abzuwehren, wie dies gegenwärtig das beängstigende Anwachsen sinnes-, haltungs- und bewegungsgeschädigter Kinder dokumentiert, dürfte daher das Handlungsfeld des Sports als neoromantische Enklave der Körperaufwertung das postmoderne Zeitalter fast zwangsläufig überdauern. Im Verbund mit Turnen und Schwimmen sollte die Leichtathletik daher ihre historische Chance vermehrt darin sehen, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die erforderliche Grundmotorik zu vermitteln, zumal deren Bewegungsdefizite durch die informationstechnischen Einengungen noch erheblich zunehmen werden. Hierzu muss die Leichtathletik ein verändertes Breiten- und Schulsportprogramm anbieten, das weniger technik- und mehr fähigkeitsorientiert ausgerichtet ist und neben Spaß und Vergnügen wieder verstärkt Anstrengung, Mühe und Schweiß akzentuiert. Fatal wäre hingegen eine elitäre Verkürzung der Leichtathletik auf den Bereich des Hochleistungssports mit Verkennung der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Breitensports für das Wohlbefinden der künftigen Menschen. Nischenbewusste und anpassungsfähigere Sportanbieter würden unweigerlich in die Bresche springen und die Leichtathletik erbarmungslos an den Rand des Bewegungs-, Spiel- und Sportgeschehens drängen, wie dies tendenziell bereits heute zu beobachten ist.

VI. Hinsichtlich des Verhältnisses von Tradition und Innovation darf der Deutsche Leichtathletikverband weder starr an dysfunktional gewordenen Wertemustern festhalten noch euphorisch jedem kurzlebigen Modentrend blindlings hinterherrennen. Ein erfolgreiches Lebensprinzip ist vielmehr, herkömmlich Bewährtes und hoff-

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nungsvoll Zukünftiges in produktiver Synthese miteinander zu verbinden. Ohne strukturelles Geschick, abwägende Vernunft und einen pragmatischen Gestaltungswillen ist diese Aufgabe nicht zu bewältigen. Zweifellos hatte der Leichtathletikverband in der Vergangenheit erhebliche Probleme, das postmoderne Menschenbild unbefangen zu akzeptieren. Doch da die anspruchsvolle Postmoderne keineswegs einem nihilistischen Narzissmus verpflichtet ist, sondern eine Relativierung der einseitigen Verkopfung der Aufklärung zum Ziel hat, ist trotz vieler gegenteiliger Strömungen die Stärkung von Individualität, Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit ihre originäre visionäre Botschaft. Der selbstbewusste Sporthopper ist der Prototyp dieser neuen Sportlergeneration. Gegenüber den Bräuchen und Sitten des traditionellen Vereinslebens eher distanziert und kritisch eingestellt, treibt er Sport überwiegend in spontanen Straßenszenen und informellen Milieus außerhalb des organisierten Sports und ohne sich einer langfristigen Organisationssozialisation unterziehen zu wollen. Möchte der Leichtathletikverband diese Generation zurückgewinnen und dauerhaft ins Vereinsleben integrieren, muss er sich vor einer allzu engen Gesinnungs-Sozialität hüten und Organisationsstrukturen entwickeln, die der Netzwerk-Identität der Kinder und Jugendlichen der Postmoderne eher entsprechen. Unzweifelhaft neigt die rollenreflexible Generation der neuen „Wilden“ dazu, offene Organisationsformen zu bevorzugen, die weit stärker als bisher die spezifischen Wünsche und individuellen Bedürfnisse der Sporttreibenden berücksichtigen müssen. Die Subjektivierung und Enttraditionalisierung des Sporttreibens darf somit nicht mit dem Ende jeglicher Sozietät gleichgesetzt werden. Unter Druck geraten allenfalls Organisationsformen, die sich beharrlich den Erfordernissen der Zeit widersetzen und verkennen, dass das “Ich” im “Wir” der Sozietäten heute weitaus stärker eingeklagt wird als früher. Soziale Vergemeinschaftung ist in der Postmoderne vermehrt ein Akt des individuellen Suchens und Auswählens, was die Möglichkeit des Misslingens stets mit einschließt.

Die Liberalisierung der Sozialformen zieht nicht zwangsläufig die Zerstörung des Leitbildes der Selbsthilfeorganisation nach sich. In deutlicher Abgrenzung zu den kommerziellen Sportanbietern und trotz vielfältiger Beeinträchtigungen und Relativierungen durch Kommerz, Politik und Medien sollte der Deutsche Leichtathletikverband daher auch künftig bestrebt sein, Ehrenamt, Gemeinnützigkeit und Fairness als wertvolle Kulturgüter offensiv zu verteidigen und eine generelle Transformation zum gewinnbringenden Service- und Dienstleistungsunternehmen zu vermeiden. Ein Missverständnis wäre es auch zu glauben, dass das aus der Enge traditioneller Kollektive befreite Individuum ohne die Wärme sozialer Gemeinschaften auskommt. Weit stärker als in der Vergangenheit wird vielmehr der “global player”, als typisches Produkt der zunehmenden Internationalisierung von Organisationen und Firmen, unter wachsender Fragmentierung, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit und Verunsicherung leiden. Die postmoderne Hoffnung auf ein Mehr an Lebensqualität und Selbstverwirklichung birgt somit stets auch pathologische Züge in sich. Indem der Deutsche Leichtathletikverband dies erkennt und die gesellschaftspolitische Bedeutung der sozialen Begegnung und der Vergemeinschaftung progressiv in seinem Re-Strukturierungsprogramm festschreibt, könnte er einen wichtigen Beitrag zur Entpathologisierung der Postmoderne leisten.

4. Fazit

Als abschließendes Fazit lässt sich feststellen, dass der Deutsche Leichtathletikverband nicht umhin kann, die Herausforderung der Postmoderne anzunehmen und aktiv-gestaltend eine vorausschauende Richtungspolitik betreiben muss – mit dem vordringlichen Ziel, eine zukunftsweisende Anpassung seiner Organisationsformen zu erlangen. Nicht Passivität und starres Festhalten an überkommenen Grundsätzen bringt ihn weiter, sondern nur innovative Strukturpolitik und zeitgemäße Neuschöpfung.

Literatur:

BAUDRILLARD, J.: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982.

BECK, U. (Hrsg.): Politik der Globalisierung. Frankfurt a. M. 1998.

BELL, D.: Die nachindustrielle Gesellschaft. In: W. WELSCH (Hrsg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 144-152.

DIGEL, H.: Brauchen wir eine neue Leichtathletik? Leichtathletik als organisierter Breitensport. In: BECKER, U. (Hrsg.): Leichtathletik im Lebenslauf. Aachen 1994, S. 16-30.

DIGEL, H.: Probleme und Perspektiven der Sportentwicklung – dargestellt am Beispiel der Leichtathletik. Aachen 1997.

EBERLE, F.: Das fähigkeitsorientierte Konzept in der Trainerausbildung. In: H. HOMMEL/H. HOPF (Red.): Kinder in der Leichtathletik. Darmstadt 1997, S. 369-376.

FREY, G.: So schön ist Leichtathletik!? In: W. SCHIELE, (Hrsg.): Leichtathletik in Schule und Verein auf dem Prüfstand. Aachen 1990, S. 30-58.

FREY, G.: (Auch) neue Wettkämpfe für den Nachwuchs. In: H. HOMMEL/H. HOPF (Red.): Kinder in der Leichtathletik. Darmstadt 1997, S. 325-336.

HÄGELE, W.: Moderner Sport zwischen Tradition und Zukunft. In: W. HÄGELE, Sportwissenschaftliche Notizen. München 1997, S. 11-37.

KATZENBOGNER, H./MEDLER, M.: Spielleichtathletik. Teil 1 und 2. Neumüster 1993/1995.

KURZ, D.: Vom Sinn des Sports. In: Deutscher Sportbund (Hrsg.): Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress “Menschen im Sport 2000”. Schorndorf 1986, S. 44-68.

WELSCH, W.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990.