Aufsatz*


Frauen bei der Gymnastik

Sport zwischen Zukunft und Vergangenheit

Hägele, W.: Entwicklungstrends im modernen Sport. Eine Skizze zum Sport der Zukunft unter Beachtung des Sports in der Vergangenheit. In: sportunterricht 38 (1989), 1, S. 5-11. 

Schlüsselwörter

Traditioneller Sport; New-Games-Bewegung; Pluralisierung der Sportmotive; Eckpfeiler des künftigen Sports; Leistungs-/Wettkampfsport; Spiel-/Spaßsport; Fitness-/Gesundheitssport; multipler Sport; funktional differenziertes Mehrebenensystem; Sportethos; gestaltende Sportpolitik

< Original S. 5 >

Der Sport der „Gegenwart“ befindet sich im Umbruch. Mit dem Schlagwort „Sport 2000“ rückt die Zukunftsperspektive immer stärker in den Vordergrund. Ein hinlängliches Verständnis der Probleme des modernen Sports ist jedoch nur möglich, wenn seine Vergangenheit angemessen berücksichtigt wird.

1  Der Sport in der Vergangenheit

Betrachten wir mit dieser Vorgabe die Welt des Sports in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, dann wurde der Sport nach dem 2. Weltkrieg primär durch den Wettkampf (Konkurrenz), das Ergebnis (Sieg oder Niederlage) sowie die Formalisierung der Handlungsabläufe (Regelwerk) bestimmt. Überwiegend war es eine Welt für Jugendliche, Männer und Leistungsmotivierte, die im Laufe der Jahre immer deutlicher die klassischen Strukturprinzipien der modernen Industriegesellschaft widerspiegelte: mit Hervorhebung der Arbeit (Training, auf Kosten des Spaßes) und des Erfolgs (um jeden Preis) sowie einer wachsenden Professionalisierung (Geld) und Bürokratisierung (Management) der sportlichen Institutionen. Die innere, vom Spiel her definierte Seinssphäre des Sports wurde zunehmend durch äußere Sinnelemente (u.a. durch Politik und Wirtschaft) beeinträchtigt, die den Begriffskern des Sports zusammenschnürten und das umliegende, mehr oder weniger nichtspielerisch geprägte Begriffsfeld erstarken ließen.

Die in den 1960er Jahren einsetzende Trimm- und Lauftreff-Bewegung erbrachte den Sportvereinen zwar fraglos neue Mitglieder und ansatzweise neue Sinnintentionen. Als unmittelbarer Ausdruck und Folge der Industrialisierung und Technisierung des täglichen Lebens, des Bewegungsmangels sowie der um sich greifenden Zivilisationskrankheiten schrieb sie ansonsten aber den bestehenden Status quo fort. Erst die tiefgreifenden sozioökonomischen Veränderungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland (Ökologiediskussion, Computerisierung des Alltags, vermehrte Freizeit und Angst vor atomarer Apokalypse) sowie die damit zusammenhängende fundamentale Gesellschaftskritik seit Ende der 1960er Jahre bewirkten schließlich auch in der Welt des Sports eine grundsätzliche Diskussion über den Sinn und Zweck des Sports, die zunächst im Zusammenhang mit dem Leistungsbegriff (Ende 196Oer/7Oer Jahre) und später, modifiziert, mit dem Aufkommen der New-Games-Bewegung (Ende 1970er/Anfang 1980er Jahre) geführt wurde.

Die Kritik wandte sich zunächst gegen einen Leistungsbegriff innerhalb und außerhalb des Sports (vgl. in der Sportwissenschaft: RIGAUER 1969; BÖHME u.a. 1972; VINNAI 1970 und PROKOP 1971), der durch eine von außen herangetragene Motivationsstruktur zu einseitig bestimmt werde, mehr noch, sich durch permanenten Leistungsdruck, gar durch entfremdete Leistung charakterisieren lasse, materielle Skrupel- und Rücksichtslosigkeit fast zwangsläufig bedinge sowie die Rationalität auf Kosten der Sinnlichkeit und der Emotionalität einseitig favorisiere. Der Leistungsbegriff könne sicherlich mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden, in modernen Industriegesellschaften verkürze er sich letzten Endes aber immer wieder auf seine ökonomische Basis, auf Wachstumsfetischismus, Rekord und Höchstleistung, ohne ausreichende Berücksichtigung von Kooperation und Solidarität – und ohne die „quality of life“ auch nur ansatzweise zum Thema zu erheben.

Die New-Games-Bewegung (vgl. FLUEGELMAN/TEMBECK 1979; FLUEGELMAN 1982; SCHÖTTLER 1983, S. 73 ff.; KAPUSTIN 1983, S. 243 ff. und KLEIN 1984, S. 231 ff.) nahm diese

< Original S. 6 >

Kritikpunkte durchaus auf. In ihrer Argumentation war sie aber breiter angelegt und zielte schärfer auf eine fundamentale Basisinnovation des sportlichen Vollzugs. Im Einzelnen wandte sie sich gegen eine Sportpraxis, in der die Freude, generell das unterhaltende Element zu kurz komme, Spontaneität und Kreativität kaum gefördert würden sowie die Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung des Einzelnen ein oft kümmerliches Dasein fristen müssten. Vehement setzte sie sich in dem Zusammenhang für die prinzipielle Mäßigung des sportlichen Wettstreits durch mehr kooperative Elemente ein („soft war“) sowie für die stärkere Sensibilisierung und Emotionalisierung des Körpers im Sportspiel („soft touch“). Und nicht zuletzt sprach sie sich für den vermehrten Gebrauch jener Sportformen aus, die das gemeinsame Spiel von Jungen und Alten beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Anspruchsniveaus (Spielfeste) ermöglichen sollten.

So polemisch und zeitweise anarchisch-chaotisch die Auseinandersetzungen über fast zwei Jahrzehnte auch geführt wurden mit zum Teil extremer Geringschätzung, wenn nicht gar „Verteuflung“ von zunächst „Leistung“, später „Wettkampf“ und „formellem Sport“; so verständnislos sich hierbei radikal-progressive Sportwissenschaftler und eher konservativ eingestellte Sportpraktiker oft gegenüberstanden; und so schmerzlich die Lernprozesse im Endeffekt für beide Seiten waren, alles in allem bewirkte die Wertediskussion im Sport, die in den 1980er Jahren immer stärker durch den „postindustriellen Zeitgeist“ beeinflusst wurde, schließlich ein innovatives, wenngleich von Krisen begleitetes Aufbrechen überkommener Strukturen im Sportbetrieb der Bundesrepublik Deutschland mit vielen Momenten der Rückbesinnung und der Wiedererneuerung des inneren Wertekanons des Sports (ohne dies überdramatisieren zu wollen).

2 Der Sport der Gegenwart

Im gegenwärtigen Sport (vgl. generell DIGEL 1984, S. 52 ff.; 1986, S. 14 ff.; SCHARIOTH 1984, S. 37 ff.; RITTNER 1984, S. 44 ff. und HEINEMANN 1986, S. 112 ff.) ist die Auseinandersetzung mit und die Suche nach einem neuen Selbstverständnis keineswegs abgeschlossen. Vielmehr muss von einer grundlegenden epochalen Umbruchsituation ausgegangen werden, die nach wie vor voll im Gange ist. Trotzdem scheinen sich heute von den aufgezeichneten Entwicklungstrends ausgehend drei große Grundströmungen zu stabilisieren:

Die erste Grundströmung leitet ihre Identität und Legitimation aus der Normen- und Wertestruktur der materialistisch ausgerichteten Industrie- und Arbeitsgesellschaft ab, wie ihn der traditionelle Sport noch am ursprünglichsten verkörperte. Hier zentriert sich der gesellschaftliche und sportliche Alltag um die Begriffe Leistung, Konkurrenz, Rekord, Askese, Effizienz, protestantische Ethik, Beruf, Geld, Status, Zukunftsorientierung, Standardisierung, Geschlechtsrollendifferenzierung sowie Freizeit als Regeneration für die Arbeitswelt, wie dies schon zur Genüge abgehandelt wurde.

Die zweite Grundströmung wird durch postindustrielle Wertsetzungen bestimmt (vgl. BELL 1979; KERN 1976; NAISBITT 1985), die im umwälzenden technisch-ökonomisch-sozialen Wandel der letzten Jahrzehnte (Mikroprozessor, Telekommunikation, Biotechnologie, Fusions- und Solarenergie, transnationale Gesellschaften) ihre tiefere Begründung und in Ansätzen mittlerweile weltweite Verbreitung gefunden haben und sich mit den Begriffen Ökologie, Hedonismus, Freizeit, Kooperation, Partizipation und Humanität des Lebensvollzugs hinlänglich umschreiben lassen.

Im Bereich des Sports haben diese postindustriellen Gesellschaftstendenzen zu einer rapiden Aufwertung und Expansion eines hedonistisch ausgerichteten Freizeitsports geführt. Offenbar besteht heute ein wachsendes Bedürfnis nach Spiel, Spaß und Abenteuer im Sport, verbunden mit einer häufig geringeren Vereinsbindung und mit Momenten der Entinstitutionalisierung und des distanzierten Abrückens von einer allzu engen Normen- und Rollengebundenheit. Als neue Bewegungskultur im und neben dem Sport kreiert, werden dabei spontanes Glücklichsein und Wohlbefinden prinzipiell einem langfristigen und zermürbenden Training vorgezogen sowie „weichere“ Spielformen (vs. „harter“ Wettkampfsport) in subkulturellen Gruppierungen ganz bewusst gepflegt. Der hedonisti-

< Original S. 7 >

sche Freizeitsport ist obendrein viel stärker in den außersportlich geselligen Rahmen eingebunden, was in der Versportlichung des Urlaubs (Aktivurlaub) seinen beredtsten Ausdruck findet. Und nicht zuletzt ist hier ein Selbstverständnis anzutreffen, das mit dem Motto „Sport für alle“ der wachsenden Vereinzelung und der Anonymität in der modernen Massengesellschaft entgegenwirken und mit der Rückbesinnung auf das „Modell des Dorfplatzes“ eine Reorganisation der Begegnung von Generationen und Geschlechtern ermöglichen möchte.

Die dritte Grundströmung ist der nicht minder expandierende Bereich des Fitness- und Gesundheitssports (Vgl. NÜSSEL 1984, S. 22 ff.; MARÉES/WEICKER 1986, S. 207 ff.; RIEDER 1986, S. 222 ff.) als unmittelbare Reaktion und Ausgleich für die körperlichen Defizite in unserer hochtechnisierten Welt. Hier übernimmt der Sport die Funktion eines biologischen Regulativs und beugt der körperlichen Inaktivität als heute potentiell krankmachendem Faktor durch die Setzung von Bewegungsreizen vor. Zwar ist das Gesundheitsmotiv, zumindest was die Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht, psycho-sozialer Stress und die Herz-Kreislauferkrankungen betrifft, in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor (zu) schwach entwickelt, doch zählt bereits heute der Fitnesssport zumindest in den höheren Soziallagen ansatzweise zur notwendigen, wenn nicht gar selbstverständlichen Körperpflege. In jüngster Zeit erbrachte die bedingte Hinwendung zur preisgünstigeren präventiv ausgerichteten Medizin dem gesundheitlich orientierten Sport außerdem eine gewisse Aufwertung. Zumindest wird die Bedeutung des Sports als Therapie und soziale Dienstleistung zunehmend anerkannt. Von daher ist auch die wachsende Differenzierung und der Zulauf zu therapeutischen Sportgruppen für Behinderte, Herzgruppen, arterielle Verschlusskrankheiten, Strafvollzug, Gastarbeiter, Diabetiker usw. zu verstehen. In vagen Ansätzen zeichnen sich ferner neue Berufsrichtungen, wie Sporttherapeut, Motologe oder Behindertensportlehrer ab. Neuerdings wird sogar über die Neugründung von Sportvereinen für Sporttherapie und Gesundheitssport sowie über erste Konzeptionen für die Erbauung von medizinisch-therapeutisch ausgerichteten Übungs- und Sportstätten diskutiert. Und diese Entwicklung wird sich in naher Zukunft schon deshalb nicht aufhalten lassen, weil die enorme Kostenexplosion im Gesundheitswesen den Fitneß-/Gesundheitssport immer stärker ins politische Kalkül hineinziehen wird.

3  „Sport 2OOO“ – eine Zukunftsperspektive

Die Strukturen des künftigen Sports zeichnen sich somit bereits heute in ersten Ansätzen ab. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er sich bis zum Jahr 2000 im Spannungsfeld von trainingsintensivem Leistungs-/Profisport, hedonistischem Freizeitsport und gesundheitsorientiertem Fitnesssport bewegen. Welche spezifischen Gewichtungen mit welchen inneren (spielerischen) und äußeren (nicht-spielerischen) Sinnkonstellationen darüber hinaus zu erwarten sind, lässt sich derzeit nur bedingt prognostizieren. Dies wird entscheidend davon abhängig sein,

  1. welche Entwicklung die postindustrielle Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin nehmen wird, und
  2. welche Vorgaben sich der Sport selbst setzt.

Was den ersten Punkt betrifft, gibt es in der bundesdeutschen Szene [1] über kurzläufige Modetrends hinaus durchaus regressive und desintegrative Strömungen, die der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung bedürfen. Am auffallendsten ist hier eine gewisse Polarisierung der Gesellschaft in eine zweckrational eingestellte und leistungsmotivierte Gruppierung und einem wachsenden Bevölkerungsteil, der seine Lebensmitte zunehmend in einer mußeorientierten Freizeit und im Narzissmus sucht, sich weitgehend auf passive und triviale Zerstreuung beschränkt, eine gewisse Technikfeindlichkeit erkennen lässt – ab und an begleitet von einer geradezu mystischen Angst vor der Zukunft – und den politischen und gesellschaftlichen Institutionen gegenüber in eher reservierter Distanz verharrt [2].

Doch der schwierige, mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisensituationen einhergehende soziale Wandel ins 21. Jahrhundert hinein wird sich wohl kaum mit sozialer Verweigerung und anomischer

< Original S. 8 >

Lethargie, De-Industrialisierung und mangelnder Arbeitsmoral bewerkstelligen lassen. Denn davon müssen wir ausgehen: Auch die dringend erforderliche ökologische Regeneration kommt ohne Zweckrationalität, Bedürfnisaufschub und Produktivität als unabdingbare Grundwerte nicht aus. Im Endeffekt können Muße und Freizeit nur „gelebt“ werden, wenn ein gewisses Existenzminimum gesichert ist. Dies ist auch der Grund, warum die oft proklamierte Freizeitgesellschaft nie autonomes Ziel, sondern immer nur Begleiterscheinung einer Arbeitsgesellschaft sein kann. Der einzig gangbare Weg einer lebensfähigen, zukunftsweisenden postindustriellen Gesellschaft liegt nicht in der Dichotomisierung von Materialismus und Postmaterialismus, sondern in der integrierten Verschmelzung und dialektischen Kopplung beider Extreme in einem Sozialverband, der beständig bemüht ist, die in ihnen angelegten Vereinseitigungen und radikalen Lösungen zu minimieren. Ökologie und Technik, Wettbewerb und Kooperation, Formalisierung und Entindustrialisierung des Lebens dürfen daher nicht länger als unvereinbare Größen behandelt werden, sondern müssen in mäßigender funktionaler Vernetzung aufeinander bezogen werden.

Die Vorgaben für den Sport der nahen Zukunft sind damit in Umrissen festgelegt:

1. Auch in der Welt des Sports sind einseitige Extreme und Polarisierungen, die unweigerlich in evolutionären Sackgassen münden müssen, zu vermeiden. Es ist nun mal so, dass sich die Natur des Menschen nie nur aus einem, sondern immer nur aus der balancierenden Spannung so unterschiedlicher Elemente erklären lässt wie Individualität und Sozialität, Synchronie und Diachronie, Stabilität und Flexibilität, Gemeinschaft und Gesellschaft sowie Erlebnis- und Ergebnisorientierung des Handelns. Die Vielfalt des Lebens scheint derart nachhaltig in unserem genetischen Erbe verankert zu sein, dass eine extreme Vereinseitigung auf nur den einen oder anderen Verhaltensmodus unter Vernachlässigung der anderen auf Dauer unweigerlich zu pathologischen Verirrungen führen muss.

Dem Sport schaden daher einseitige Exzesse mit Diskriminierung und Abwertung des Ausgeschlossenen mehr, als dass sie ihm Nutzen bringen. Ebenso scheint die Grundfigur der binären Opposition als Orientierungspunkt für den zukünftigen Sport weniger geeignet zu sein als die Interdependenz der verschiedenen Sportausprägungen in einer in sich stimmigen und ausbalancierten Einheit. Der derzeitige Trend im Sport, hin zu mehr spontaner Sinnlichkeit, Emotionalität und affektiv vermittelter Kontaktaufnahme, ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen. Letzten Endes ist dies die mäßigend-ausgleichende Reaktion auf die vielfach übersteigerte Rivalitätsideologie der letzten Jahrzehnte, auf manche Tendenzen der nüchternen Mechanisierung und Instrumentalisierung des menschlichen Körpers sowie der bisweilen verhängnisvollen kognitiven Vereinseitigung von Spiel und Sport im modernen Leben.

So wenig jedoch der moderne Leistungs-/Profisport – trotz der heute allenthalben zu beobachtenden und scheinbar alle Grenzen der Moral sprengenden Instrumentalisierungen – von vornherein als menschenfeindlich und pervers-korrupt abgestempelt werden darf, so wenig verfügt der derzeitige Freizeitsportboom nur über positive Wirkungen, wie dies in der Sportwissenschaft bisweilen vertreten wird. Auch im sog. „Spaßsport“ finden sich kritisch zu hinterfragende Momente des Abdriftens der erlebnishaften Ich-Identitäts-Bestätigung zum dumpfen Selbstgenuss und zur narzisstischen Ich-Beräucherung. Auf der anderen Seite werden Kreativität, Regelungebundenheit und nichtkonkurrenzorientiertes Kooperations- und Solidaritätsprinzip oftmals bis an die Grenze des Erträglichen überstrapaziert. Genauso birgt der Fitness-/Gesundheitssport trotz vieler positiver Elemente für den bewegungsbeeinträchtigten und oft technikgeschädigten modernen Menschen viele äußere, nicht-spielerische Tendenzen in sich, so dass generell zu fragen ist, ob und inwieweit das Gesamtsystem des Sports künftig fähig und in der Lage sein wird, all diese verschiedenen Sinnintentionen hinreichend zu absorbieren, ohne daß das Ganze aus den Fugen gerät.

2. Damit kommen wir zur Kernfrage für den „Sport 2000“. Denn unbestreitbar gefährdet die Pluralisierung der Sportmotive und die wachsende Komplexität und Differenzierung des Sportssystems zunehmend

< Original S. 9 >

die Einheit des Sports. Nicht ganz unberechtigt werden deswegen mit wachsender Sorge verhängnisvolle Entstabilisierungsprozesse befürchtet. Und in der Tat wird für den Sport der nahen Zukunft von entscheidender Bedeutung sein, welche Vorkehrungen getroffen werden, damit trotz der um sich greifenden Herausbildung spezifischer sportlicher Subeinheiten die relative Autonomie seines inneren Normensystems erhalten bleibt und die direkte Rückkopplung zwischen äußeren Bedürfnissen und Notwendigkeiten und inneren Werteinschätzungen so weit wie möglich minimiert wird.

Realisieren wird sich eine solche Forderung aber nur lassen, wenn die funktionale Differenzierung des Sports nicht länger als Gefahr für eine kurzsichtige Heile-und-here-Sportwelt-Ideologie angesehen, sondern als strukturelle Notwendigkeit komplexer Systeme anerkannt wird. Unerlässliches Erfordernis ist dann allerdings, dass die über spezielle Bedürfnisse, Normen und Regeln verfügenden Subeinheiten des Sports nicht auseinanderdriften und sich separieren, sondern in einem interdependenten, multistabilen Mehrebenensystem (BÜHL 1982, S. 54-77) aufeinander bezogen bleiben. Denn dann erfolgt die Dezentralisation des Gesamtsystems zwar über partiell selbständige, ansonsten aber vertikal und horizontal miteinander vermaschte Teilzentren, die noch über einen gewissen Grundkonsensus verfügen, obgleich funktionsbedingte Spannungen zwischen dem inneren Wertezentrum und der äußeren Peripherie bestehen.

Nur wenn derart gewährleistet ist, dass trotz des manchmal enormen Drucks durch die äußeren Sinnelemente der innere Definitionskern des Sports relativ bestehen und abgeschirmt bleibt, erst dann kann die Rückkopplung mit dem äußeren Regelkreis systemintegrativ absorbiert werden. Wird hingegen das innere System des Sports permanent verletzt und bedrängt durch disharmonische äußere Elemente, das innere Systemverständnis womöglich als nicht länger verteidigungswürdig befunden, dann kann die vereinigende Balance der Systemelemente schließlich verlorengehen und Chaos und anomische Zustände werden obsiegen. Dieser Zustand wird solange anhalten, bis die Störung entweder bis zur Systemverträglichkeit ausgegliedert wird, oder aber durch Umfunktionierung und kybernetische Reorganisation eine Modifikation der Verhältnisse eintritt, bei der (und dies ist heute generell nicht mehr auszuschließen) sogar das bisher Äußere des Sports dessen inneren Regelkreis bilden kann, während die eigentlichen spielerischen Sinnelemente im äußeren Horizont ihr Dasein fristen.

Im historischen und kulturellen Vergleich lassen sich für solche extremen Instrumentalisierungstendenzen durchaus Beispiele finden. Dort können wir aber auch sehen (und lernen), dass ein derart entfremdetes sportliches Handlungsfeld immer auch Symbol und Ausdruck von fundamentalen gesellschaftlichen Krisensituationen ist. Es scheint daher angezeigt, solche Negativ-Symptome kritisch zu beobachten und wichtiger noch, sie entschlossen zu bekämpfen und unter distanzierter Kontrolle zu halten. Irrationale Hetz- und Diffamierungskampagnen helfen ebenso wenig weiter wie die ketzerische Panikmache und das Herbeireden einer stupiden Untergangsstimmung. Zweckmäßiger ist da allemal noch, über strukturelle Maßnahmen nachzudenken, die eine hoffnungsvollere Zukunft eröffnen.

3. HERMS (1986, S. 84 ff.) hat sicherlich recht, wenn er feststellt, die ethischen Grundüberzeugungen einer Gesellschaft würden in ihren Bildungsinstitutionen geprägt werden, so u.a. in Familie, Schule, Kirche und Massenmedien. Beinhaltet diese Aussage allerdings, dass das Sportethos für den Sport zwar wesentlich, aber dennoch nicht durch ihn selbst (wenigstens ansatzweise mit-)definierbar sei, dann entmündigt er damit das Sozialsystem des Sports und drängt es aus der moralischen Verantwortung. So groß darum die ethische Vorsozialisation durch andere gesellschaftliche Bildungsinstitutionen auch sein mag, so unabdingbar ist und bleibt das Beharren auf der originären ethischen Gestaltungskraft des Sports, um ihn nicht von vornherein ad absurdum zu führen.

Verdeutlichen wir dies am Beispiel der beträchtlichen Gewalt und Aggression im Profi-/Hochleistungssport unserer Tage, dann ist es ein Leichtes, bei der Ursachenforschung resignativ auf analoge Tiefenstrukturen der westlichen Zivilisation zu verweisen. Doch trotz dieses Faktums sind selbst im Extrembereich sportlichen Leistens Kor-

< Original S. 10 >

ruption und Verwerfung nicht zwingend notwendig, wenn hier auch die Versuchungen und Verführungen im nichtspielerisch-sportlichen Sinne oft vielfach größer sein mögen als im Freizeit- und Gesundheitssport. Aus diesem Grund irrt VOLKAMER (1982, S. 98) grundsätzlich, wenn er für den Spitzensport behauptet, jeder sei käuflich, vorausgesetzt,  die Höhe der Summe stimme, weshalb es falsch wäre, „Moralbegriffe des normalen, des kleinen Sports auf den Showsport zu übertragen“. Denn gleichgültig, welche Situation in welchem Kontext letzten Endes vorliegt, Menschsein heißt immer und stets aufs Neue, sich mit ethischen Werturteilen auseinanderzusetzen – im guten wie im bösen Sinne. Und dies schließt die Entscheidung, für oder gegen die Fairness zu sein, auch im erbittertsten Wettkampfsport prinzipiell nicht aus.

4. Auf die Sportpolitik übertragen heißt dies: sie darf ihre handlungsbestimmenden Maßnahmen nicht lediglich auf die Fortschreibung der Gegenwart in die Zukunft hinein beschränken, sondern muss aktiv-gestaltend wirken, will sie nicht zum bloßen Handlanger externer Mächte herabsinken. Im emanzipatorischen Sinne schließt dies die Initiierung von Lernprozessen und Lernprogrammen ebenso ein wie strukturelle Maßnahmen, die allgemein anstreben, was ethisch-moralisch sein sollte, aber oft nur in Ansätzen verwirklicht ist. Der bloße Verweis auf die Ähnlichkeiten sportlicher Verhaltensmuster mit den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen trägt auf Dauer jedenfalls nur bedingt zur Erhellung und Bekämpfung der Probleme bei, obgleich dieser Einfluss als grundlegend und dominant eingeschätzt werden muß. Doch solche Aussagen verführen nur allzu leicht zur bequemen Alibifunktion des Status quo. Vielversprechender scheint deshalb zu sein, die Akteure – insbesondere unsere Kinder und Jugendlichen in Schule und Verein – immer wieder und mit Nachdruck an die spielerische Essenz des Sports zu gemahnen (Pädagogisierung einer Sportethik), um derart mehr Menschlichkeit zu leben und um von hier aus in einem innovativen Rückkopplungsprozess die Gesellschaft wiederum positiv zu beeinflussen, so bescheiden – mühsam und zum Scheitern verurteilt – sich dies im Einzelfall ausnehmen mag.

Anmerkungen

[1] Die folgenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf BÜHL (1985), dessen kritische Anmerkungen zu den postindustriellen Entwicklungstrends in der Bundesrepublik Deutschland ich prinzipiell teile.

[2] Negativ überspitzt formuliert sind hier auch jene sozialen Gruppen zu finden, die die Arbeit bzw. Leistung kategorisch ablehnen, den individuellen Wettstreit als Grundübel in unserer Gesellschaft verurteilen, den sozialen Rückzug häufig in utopischen Scheinidyllen von Protestkommunen und religiösen Sekten proben, den Egalitarismus überstrapazieren und mit dem Ruf nach einem gerechteren Sozialismus allen Grundübeln in der modernen Demokratie begegnen möchten. (Diese Polemik sei als Reflexionsbogen zu den in der Sportwissenschaft seit Jahren vorgetragenen und hinlänglich bekannten Argumenten der progressiven Gesellschaftskritiker erlaubt.)

Literatur

BELL, D.: Die nachindustrielle Gesellschaft. Reinbek 1979.

BÖHME, J.-O., u.a.: Sport im Spätkapitalismus. Frankfurt 1972.

BÜHL, W. L.: Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens. Tübingen 1982.

BÜHL, W. L.: Eine Zukunft für Deutschland: Grundlinien der technologischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. München 1985.

DIGEL, H.: Gesellschaftliche Entwicklung und der Auftrag des Sportvereins. In: Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Sportentwicklung. Einflüsse und Rahmenbedingungen – Eine Expertenbefragung. Köln 1984, S. 52-65.

DIGEL, H.: Über den Wandel der Werte in der Gesellschaft, Freizeit und Sport. In: Deutscher Sportbund: Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“. Schorndorf 1986, S. 14-43.

FLUEGELMAN, A. /TEMBECK, S.: New Games. Die neuen Spiele, Bd. 1. Soyen 1979.

FLUEGELMAN, A.: Die neuen Spiele, Bd. 2. Soyen 1982.

HEINEMANN, K.: Zum Problem der Einheit des Sports und des Verlusts seiner Autonomie. In: Deutscher Sportbund: Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“. Schorndorf 1986, S. 112-128.

HERMS, E.: Ist Sportethik möglich? In: Deutscher Sportbund: Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“ Schorndorf 1986, S. 84-110.

KAPUSTIN, P.: New Games und die Spielbewegung des Deutschen Sportbundes. In: GRUPE, 0. /GABLER, H. /GÖHNER, U.: Spiel, Spiele, Spielen. Schorndorf 1983, S. 243-251.

KERN, J.: Probleme der postindustriellen Gesellschaft. Köln 1976.

KLEIN, M.: „New Games“ – auch ein Weg politischer Bildung? In: Bundeszentrale für politische Bildung: Gesellschaftliche Funktionen des Sports. Bonn 1984, S. 231-243.

MARÉES, H. de/WEICKER, H.: Sport und Gesundheit – Chancen, Gefahren, Forderungen. In: Deutscher Sportbund: Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“. Schorndorf 1986, S. 207-221.

NAISBITT,J.: Megatrends. 10 Perspektiven, die unser Leben verändern werden. München 1985.

NÜSSEL, E.: Auswirkungen des sich verändernden Gesundheitsbewusstseins. In: Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Sportentwicklung. Einflüsse und Rahmenbedingungen – Eine Expertenbefragung. Köln 1984, S. 22-30.

PROKOP, U.: Soziologie der Olympischen Spiele. Sport und Kapitalismus. München 1971.

RIEDER, H.: Sporttherapie im Jahr 2000. In: Deutscher Sportbund: Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongreß „Menschen im Sport 2000“. Schorndorf 1986, S. 222-229.

RIGAUER, B.: Sport und Arbeit. Frankfurt 1969.

RITTNER, V.: Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf den Sport. In: Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Sportentwicklung. Einflüsse und Rahmenbedingungen – Eine Expertenbefragung. Köln 1984, S. 44-51.

SCHARIOTH, J.: Quantitative und qualitative Veränderungen im Freizeitbereich. In: Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen: Sportentwicklung. Einflüsse und Rahmenbedingungen – Eine Expertenbefragung. Köln 1984, S. 37-40.

SCHÖTTLER, B.: New Games – Trend oder Bedürfnis? In: FRANKE, E.: Sport und Freizeit. Reinbek 1983, S. 73-82.

VINNAI, G.: Fußballsport als Ideologie. Frankfurt 1970.

VOLKAMER, M.: Der Einfluss der Sportberichterstattung auf Sportler und Zuschauer. In: PILZ, G. A.: Sport und körperliche Gewalt. Schorndorf 1982, S. 93-99.